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(Hausmeisterloge. Das Fenster ist zum Verkaufsschalter umgebaut, ein Teil des Raumes ist als Kiosk ausgestattet.)
KLAUS FRITZ: Ich war Konzertmeister des städtischen Symphonieorchesters. Jetzt bin ich Hausmeister. An einer Schule. Schulhausmeister. Haustechniker, wie die amtliche Bezeichnung für diese Tätigkeit heißt, die nach keinerlei zertifizierter Ausbildung verlangt, ein Anlernberuf mithin, dessen Anforderungsprofil weder Meister- noch Gesellenbrief fordert, sondern lediglich handwerkliches Geschick. Wo immer man es auch erworben hat. – In wenigen Wochen gehe ich in den Ruhestand. Dreizehn Jahre werde ich dann Hausmeister gewesen sein. Mit gutem Erfolg und etlicher Freude. Ich werde hier geschätzt und anerkannt. Weil ich im Hausmeisterberuf Beachtliches leiste. Mich vorausschauend, findig und hilfsbereit zeige. Aber auch, weil man hier meine Lebensgeschichte kennt; das eine oder andere Mitglied des Kollegiums mich sogar noch im Orchester erlebt hat. Ich war Konzertmeister. Jetzt bin ich Hausmeister. Schulhausmeister. Wenigstens hat das Wort einigen Klang, einen besseren jedenfalls als >Schulhaustechniker<. (Das Mobiltelefon klingelt. Klaus Fritz spricht in den Apparat.) Ich komme herüber. (Wieder zum Publikum.) Einen Moment bitte, ich bin gleich zurück. (Ab.)
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(Büro des Oberbürgermeisters.)
OBERBÜRGERMEISTER: (Zum Musikdirektor.) Du meine Güte, Sie sind ein Glücksfall für diese Stadt. Sie holen aus dem städtischen Orchester heraus, was nur möglich ist. Aber nicht nur ich frage mich schon seit einiger Zeit, ob Sie sich auf Dauer mit allenfalls mittelmäßigen Musikern zufriedengeben dürfen. Mein Bester, Sie sind doch heillos unterfordert. Es wundert mich ohnehin, wie lange Sie schon bei uns aushalten. Renommierte Klangkörper warten auf Sie. Nur müssen Sie sich einmal von hier lösen.
MUSIKDIREKTOR: Ich bin gern Chefdirigent in dieser Stadt. Die Musiker geben ihr Bestes. Das Publikum ist begeisterungsfähig. Sicher ist das Orchester klein. Es zählt so wenige Planstellen, dass in den Konzerten und Opernproduktionen jeder einzelne Musiker den Offenbarungseid leistet. Alle müssen völlig auf der Höhe sein. Bei größeren Orchestern ist das anders. Dort bewirkt bereits die schiere Zahl den fülligen Klang. Wenn bei denen einmal jemand nicht ganz in Form ist, schließt das ein akzeptables Resultat nicht aus. Doch gleicht, so wie sich meine Musiker allabendlich ins Zeug legen, das Symphonieorchester unserer Stadt in seinem Ethos und Gemüt einem Kammermusikensemble. Obschon die Bezahlung deutlich unter der größerer Klangkörper rangiert. Die Stadt beschäftigt hochqualifizierte Musiker zu bescheidenem Tarif. Unsere Besucherzahlen beweisen, wie sehr die Kommune davon profitiert.
KULTURDEZERNENTIN: Die Verve, mit der Sie sich für Ihre Leute einsetzen, ist eines. Wo aber, so müssen Politik und Verwaltung fragen, liegt der Mehrwert, den das Orchester für die Stadt erwirtschaftet? Wir sind unseren Nachbarkommunen an Einwohnern und finanzieller Ausstattung unterlegen. Der Ruf der Philharmoniker und Symphoniker, die dem Kulturleben der Städte, mit denen wir zu konkurrieren gezwungen sind, Glanzlichter aufstecken, geht über die Region hinaus; er wurzelt traditionell im städtischen Leben und der medialen Aufmerksamkeit. Seit einem Jahrhundert werden nur knappe drei Dutzend Kilometer von hier Meisterwerke von Reger und Mahler, Opern von Henze und Glass uraufgeführt. Wiederholt wurden die nachbarlichen Philharmoniker von Kritikern auf vorderste Ränge gewählt. Wir können da nicht mithalten. Nicht finanziell, nicht qualitativ. Wir benötigen die Geldmittel, die wir bislang für das städtische Orchester und das Theater aufwandten, um uns in anderer Weise kulturell zu profilieren. Das Schlüsselwort heißt Alleinstellungsmerkmal. Ihre Leute leisten dazu keinen Beitrag.
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(Hausmeisterloge.)
KLAUS FRITZ: Für die kurze Unterbrechung bitte ich um Nachsicht. Zumal es sich um eine Bagatelle handelte. Die Sache war im Handumdrehen erledigt. Der Abfluss eines Waschbeckens in den Schülertoiletten war undicht. Ich verfüge über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Dichtungsringen und anderen Ersatzteilen. Klempnerarbeiten wie diese sind also eine Kleinigkeit für mich. Etwas, das mich richtig hätte tüfteln lassen, wäre mir lieber gewesen. Ich bin erfinderisch. Dabei gänzlich lösungsorientiert. Ich gestehe aufrichtig, meiner Art technische Probleme zu beheben eignet unter dem Gesichtspunkt des zunftmäßigen Handwerkers oft etwas Zweifelhaftes, ja Bedenkliches, Unkonventionelles eben. Das nicht selten leicht improvisiert wirkt. Aber zu meiner eigenen Überraschung sind die Reparaturen, die ich ausführe, oft dauerhafter als die von Hand der Fachleute. Jedenfalls erspare ich dem kommunalen Arbeitgeber stattliche Beträge, während die meisten anderen Hausmeister, sobald nur das geringste Problem auftaucht, Fachbetriebe rufen. Auf Kosten des Steuerzahlers. Ich aber bin froh, wenn ich Gelegenheit erhalte, mich handwerklich und technisch zu bewähren. Die Tüftelei hat für mich etwas von Musik. Wenn ich nach einer überraschenden Lösung für ein Problem handwerklicher oder technischer Ursache fahnde, ist das, als ob ich ein vorgegebenes musikalisches Thema variiere. Soeben spielte ich das Thema „defekter Dichtungsring“ durch. Wie gesagt, in diesem Fall keine sonderlich anspruchsvolle Aufgabe, aber es gibt glücklicherweise für mich eine Menge Anlässe, die reizvoller sind, um meine Geschicklichkeit zu beweisen.
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(Büro des Oberbürgermeisters.)
INTENDANT: Sie reden von der Liquidation des Orchesters und meinen Oper, Sprechtheater und Ballett gleich mit. Sie stoßen Schauspieler, Sänger, Musiker, Choristen und Tänzer zur Tür hinaus. Auf die Straße. Zu schweigen von mir und den anderen künstlerischen Vorständen. Für die ich keine Sorge habe. Denn wir sind allesamt umworben. Aber bei den Kollektiven und – wenn sie sich in fortgeschrittenen Jahren befinden – auch den Solisten sieht es völlig anders aus.
OBERBÜRGERMEISTER: Die Abwicklung von Orchester und Stadttheater ist ohne Alternative. Die Leute sind durch die elektronischen Medien verwöhnt. Sie verlangen Höchstleistungen, dargeboten von Spitzenorchestern und Sängern mit internationalem Ruf; Schauspielern, die das Publikum aus Kino und Fernsehen kennt. Vor Ort sollten mindestens Annäherungswerte erreicht werden. Was den Instituten der Nachbarstädte gelingt. Doch solche Ambitionen kosten. Wir können den dazu erforderlichen Aufwand nicht leisten. Und sind deshalb einfach nicht konkurrenzfähig. Meine Güte, wenn ich in der Oper bin, möchte ich nichts als die schönen Melodien hören. Im Schauspiel die Sentenzen aus dem Faust, die ich seit Schülertagen auswendig weiß. Ich selbst habe keine großen Ansprüche. Aber das verwöhnte Publikum. Genauso wenig, wie dem ein einfach nur solider Politiker genügt, gibt es sich mit einem bloß achtbaren Konzert oder einer passablen Opern- oder Schauspielproduktion zufrieden. Man kann diese bei weitem überzogene Erwartungshaltung bedauern, ändern kann man sie nicht.
MUSIKDIREKTOR: Unser Orchester, unser Musiktheater- und Schauspielensemble sind profiliert und qualitativ auf einer Höhe, die man bei den finanziellen Einschränkungen, denen wir unterworfen sind, nicht erwarten dürfte. Unsere Konzertprogramme und Theaterspielpläne kombinieren attraktiv die Dauerbrenner – Beethovens Fünfte, Bizets Carmen, Die Räuber – mit reizvoll Unbekanntem. Die Nationaloper unseres Nachbarlandes – hinreißende Musik -, wer in der Region kannte sie? Wir haben sie ins Programm genommen. Die Vorstellungen waren ausverkauft, die Leute hingerissen.
INTENDANT: Wir produzieren das, wozu den Großbühnen der Nachbarstädte der Mut fehlt. Deshalb strömen zahlreiche Besucher von auswärts ins Haus. Denken Sie daran, wie konsequent wir neue Stücke herausbringen.
MUSIKDIREKTOR: Ich bin fest davon überzeugt, unser Publikum erwartet weder ein metropolitanes Orchester noch entsprechende Sänger, noch Schauspieler, die regelmäßig in Film und Fernsehen auftauchen. Die Leute, die in unsere Vorstellungen kommen, wünschen sich einen ergreifenden Opernabend oder eine packende Produktion im Sprechtheater. Die wir ihnen bei allen Unzulänglichkeiten – kleines Orchester, kleiner Chor, kleine Solistenensembles, geringer Ausstattungsetat – auch bieten. Ich erinnere noch einmal an unsere hervorragende Platzauslastung.
OBERBÜRGERMEISTER: Zuschauerumfragen belegen das hohe Durchschnittsalter des Publikums. Wir drehen uns ein wenig im Kreis, wenn ich betone, dass die jüngeren Leute in die Nachbarstädte fahren. Oder gleich in die Landeshauptstadt. Die jungen Leute sind mobil und flexibel. Das hiesige Stammpublikum, überaltert wie es ist, stirbt aus. Dass Sie mit Raritäten und Exotischem die verschwindende Minderheit irgendwelcher Enthusiasten und Intellektuellen von auswärts ansprechen, bestreite ich nicht. Aber die Resonanz des großen Publikums bricht weg.
KULTURDEZERNENTIN: Sehen wir den Tatsachen ins Auge. Orchester und Stadttheater, beide sind Billiganbieter. Sie operieren im bescheidensten Marktsegment. Die Eintrittspreise unterbieten die potenteren Mitbewerber hemmungslos. Wer von auswärts kommt, der nimmt die Aufführung samt unserer Subventionen – das sind die Steuergelder der Bürger unserer Stadt – unverbindlich einmal mit. Ohne Gegenleistung. Soll heißen, ohne für die örtliche Wirtschaft nennenswerten Ertrag. Die viel gepriesene Umwegrendite von kulturellen Einrichtungen, also das, was diese etwa dem Gastgewerbe und dem örtlichen Handel an Einnahmen zuspielen, tendiert im konkreten Fall gegen null.
OBERBÜRGERMEISTER: Um die Qualität der Produktionen zu steigern, braucht es höhere Eintrittspreise. Aber für deren Anhebung steht unsere Bürgerschaft wirtschaftlich auf zu schwachen Füßen. Und das externe Publikum ist ein zu unsicherer Faktor. Ich gehe davon aus, es wird, wenn das Reizvolle, das jeder Exotismus zunächst mit sich bringt, abklingt, fragen, ob der künstlerische Rang der Produktionen die Anfahrt rechtfertigt.
MUSIKDIREKTOR: Ist Ihnen klar, welches Urteil Sie über unsere Arbeit fällen?
OBERBÜRGERMEISTER: Meine Herren, begreifen Sie doch, ich attackiere nicht Sie persönlich. Wenngleich Sie das in der emotionalen Anspannung des Augenblicks jetzt anders empfinden werden. Ich rede von drückendsten Sachzwängen, die unsere Stadt knechten. Denen auch ich frone.
INTENDANT: Sie schätzen unsere Arbeit sträflich gering. Leicht lässt sich zerstören, wieder aufbauen desto schwerer.
KULTURDEZERNENTIN: Wir bauen auf. An anderer Stelle. Das ist einmal sicher.
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(Hausmeisterloge.)
KLAUS FRITZ: Mein Vater war akademischer Maler und Gymnasiallehrer. Seine Bilder hängen in nicht wenigen Museen des deutschen Nordens. Mein Bruder ist Arzt, Internist. Regelmäßig erteilt er im Fernsehen einem Millionenpublikum medizinische Ratschläge. Ich war Konzertmeister. Jetzt bin ich Hausmeister. Berufung? Die hatte ich. Überleben? Musste ich. Der Ruhestand? Ist ersehnt. – Schwamm über meine eigene Schullaufbahn. Lernen interessierte mich allein, wenn die Geige im Spiel war. Ich war spät dran. Begann erst mit vierzehn. Um auf dem Instrument Professionalität zu erreichen, nahezu im Greisenalter. Tag und Nacht übte ich, um die Aufnahmeprüfung an der Staatsmusikschule zu bestehen. Gezielt studierte ich nur ein, wovon ich wusste, es würde die Aufnahmekommission beeindrucken. Ich blendete. Ich wurde immatrikuliert. Begabung und Können schienen mir in ungewöhnlichem Maß zu eigen. Als dann bald nachdem ich mein Studium aufgenommen hatte, ruchbar wurde, wie es tatsächlich um meine Kenntnisse und Fertigkeiten bestellt war, rief das – gelinde gesagt – Entsetzen hervor. Aber ich war fleißig, zeigte Beharrungsvermögen, arbeitete zielführend, bewies dann doch, wozu ich taugte, so dass meine Lehrer das, was ihnen anfänglich als peinliche und möglichst zu vertuschende Fehlentscheidung gegolten hatte, letztlich nicht zu bereuen hatten. Ich schloss das Studium mit einem mehr als achtbaren Examen ab. (Blickt ins Publikum, als erwarte er Anerkennung.) Nach einer Durststrecke recht gelegentlicher Beschäftigung führte mich mein erstes reguläres Engagement in das Orchester einer einstmals mondänen süddeutschen Bäderstadt. Um ehrlich zu sein, personell und qualitativ übertraf der Klangkörper ein ambitionierteres Kurorchester nur wenig. Längst wurde die weltläufige Lebensart in diesem Städtchen mehr behauptet als tatsächlich gelebt. Aber etliche Herren des Orchesters entsprachen dem Beuteschema der besser situierten örtlichen Weiblichkeit, sowohl der gastweise weilenden Damen wie der einheimischen. Die Kollegen ließen sich von den arg Erblühten hofieren, herzen und logieren. Denn die Musikergage war äußerst bescheiden. Ich wohnte als möblierter Herr. Die kurenden oder auch dauerhaft residierenden Damen der Gesellschaft gönnte ich den Kollegen. Ich war jung. Durchaus fesch an Gestalt und Wesen. Nicht nur Fotografien belegen das, auch ein Bild, das mein Vater in dieser Zeit malte. Es zeigt mich schlank und wohlproportioniert. Mit hoher Stirn, wachen Augen, einem Mund, der Apercus auszusprechen liebt, braungebrannt. Die Geige in der Hand, Karaffe und Glas mit Rotwein auf dem Tisch. Zwar ließ ich es an Damenbekanntschaften im engeren Sinn fehlen, nicht jedoch entzog ich mich den Frauen, die meinen Vorlieben, schon wenn ich auf Alter, Gestalt und Temperament sah, eher entgegenkamen. So pflückte ich Sträuße unter den weiblichen Beschäftigten des Hotellerie- und Gastgewerbes. Ich denke gerne an diese heiter leichtlebige süddeutsche Atmosphäre. Aber ich durfte dort nicht hängen bleiben, wie einigen Kollegen widerfahren war. Ich wechselte an das Waldoberländische Symphonieorchester in Blankenburg, einen Klangkörper immerhin, dessen Konzerte regelmäßig in der Fachpresse besprochen wurden. Der auch das große Repertoire bediente, Bruckner und Mahler. Als Orchester für die gesamte Region reisten wir durch Berg- und Talstädtchen eines beinahe westdeutschen Mittelgebirges, konzertierten in Schützen-, Mehrzweck- und mitunter Stadthallen. Pult um Pult rückte ich in den folgenden Jahren bis über die Mitte meiner Instrumentengruppe vor. Doch wurde ich meines Lebens in Blankenburg nicht wirklich froh. Die Gegend bot viel Landschaft und manches altväterliche Fachwerkstädtchen, das ein Postkartenmaler erfunden haben könnte. Aber es mangelte ihr an Charme und Esprit. Alle jüngeren Frauen schienen ausgewandert. Bis auf Weiber von robuster Statur und auch sonst derbem Zuschnitt. Außer ihnen blieben nur solche Frauen, die früher oder später in vormals mondänen süddeutschen Badeorten kuren würden, Frauen mit anderen Worten, die ich einst – meist – verschmäht hatte. Auch ließen die urbanen Reize Blankenburgs selbst dann zu wünschen übrig, wenn man seine Begehrlichkeit darauf reduzierte, nach der Rückkehr von einem auswärtigen Konzert noch eine offene Kneipe für eine Kleinigkeit zu Essen und einen Absacker zu finden oder mit den Kollegen einen ordentlichen Skat zu dreschen. Zudem fehlte die berufliche Perspektive. Die Konzertmeister des Orchesters waren mir an Alter nicht weit voraus. Ich hatte nicht die Absicht zu versauern, weder was die Lebensqualität noch was die Karriere anlangte. Also bewarb ich mich auf den Posten des zweiten stellvertretenden Konzertmeisters in der Stadt, in der ich nun Hausmeister bin. Schulhausmeister.
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(Stadttheater. Büro des Intendanten.)
MUSIKDIREKTOR: Seit mehr als einem Jahrzehnt mache ich mich um das hiesige Musikleben verdient. Als ich herkam, roch das Haus nicht nur nach Schmiere, sondern war veritabler Saustall. Der Spielplan war Sülze. Das Orchester schlampte vor sich hin. In der Oper riet nicht nur einer der Sänger seine Noten eher, als sie zu lesen. Die Schauspieler waren beinahe allesamt Knallchargen. Um wenigstens den musikalischen Betrieb zu heben, spielte ich auch das etwas bedeutendere Repertoire und führte städtische Symphoniekonzerte ein. Der Publikumszuspruch gab mir Recht. Mühsam arbeiteten sich Sänger und Orchester zu ernsthafterem künstlerischem Schaffen empor. Später stießen Sie hinzu. Und auch auf der Szene ereignete sich nun Sehenswertes. Oper und Schauspiel fanden mehr als nur lokale Beachtung. Die Symphoniekonzerte sind ausabonniert. Solide, gediegen, im Land wahrgenommen stehen wir da. Und jetzt: Schließung. Sicher, ich habe meine Angebote. Attraktive Angebote. Durchaus.
INTENDANT: Solidität und Gediegenheit sind für die Stadtspitze keine Kriterien. Ich fürchte, wir werden etwas geopfert, das sich spektakulär gibt. Irgendeinem Leuchtturmprojekt. In den Augen des Oberbürgermeisters und seiner angriffslustigen Kulturdezernentin sah ich eine Entschlossenheit blitzen, die bedenkenlos aus dem Weg räumt, wer ihr nicht weicht. Kein Zweifel, es geht zu Ende mit Theater und Orchester dieser Stadt.
MUSIKDIREKTOR: Sind Sie da so sicher? Denken Sie nicht an Widerstand?
INTENDANT: Der OB und seine Kamarilla wollen uns loswerden. Werde ich mich dort aufdrängen, wo ich unerwünscht bin? Auch ich habe Offerten. Verlockende Offerten. Ich werde viele von meinen Solisten mitnehmen. Hier können wir uns die Seele aus dem Leib spielen, das ist völlig gleichgültig. Ich gehe jede Wette ein, hinter unserem Rücken sind die Weichen seit langem gestellt.
MUSIKDIREKTOR: Zeichnen wir nicht den Kollektiven gegenüber verantwortlich? Was wird aus Chor und Orchester? Was geschieht mit den älteren Solisten aus Oper und Sprechtheater? Besonders denen, die sich nicht ihrer Qualität, sondern ihrer Jahre wegen schwer tun werden, ein neues Engagement zu finden? Wir unterschrieben die Arbeitsverträge. Ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass die Bürger dieser Stadt Theater und Orchester verdienen.
INTENDANT: Die Bürger verdienen haargenau den Magistrat und eben den Oberbürgermeister, die sie gewählt haben. Und die schaffen uns ab. Wie gesagt, ich habe Alternativen. Ich lege Wert darauf, willkommen zu sein. Wünschen die Bürger, Theater und Orchester zu erhalten, sollen sie darum kämpfen. Sobald ich die Leute sich zu einer repräsentativen Menge formieren sehe, die klar für uns eintritt, werde ich Initiative und Furor zeigen. Aber auch erst dann. Protest, der nicht aus der Mitte der Bürgerschaft kommt, ist zwecklos.
MUSIKDIREKTOR: Allein dass ich zum Schweigen über diese Sauerei verdonnert bin, allein das bringt mich schon auf die Barrikade. Heute Abend trete ich vor meine Musiker. Hebe den Taktstock. Fordere äußerste Disziplin und Leistung. Als wüsste ich von nichts. Engagiert und ahnungslos werden meine Leute ihr Bestes geben. „Der OB zählt eure Tage, er geht euch ans Fell“, werde ich denken. „Spielt so gut ihr wollt, es schert ihn nicht.“ Welche Loyalität zählt stärker? Die gegenüber dem Dienstherrn? Oder die gegenüber meinen Musikern?
INTENDANT: Weder Ihnen selbst noch Ihren Leuten würde solch unzeitige Offenheit nützen. Würden Sie das Orchester informieren, wäre das die Steilvorlage, um sich Ihrer wegen Vertrauensbruchs fristlos zu entledigen. Künftigen Arbeitgebern würden Sie als illoyal gelten und die Offerten, die jetzt noch bei Ihnen eingehen, würden eilig kassiert werden. Auch dem Orchester wäre nicht geholfen. Deshalb darf das Renommee seines Chefs sich nicht angefochten zeigen, wenn er beabsichtigt, im richtigen Augenblick seine ganze Autorität in die Waagschale zu werfen.
MUSIKDIREKTOR: Nur deshalb werde ich mir heute Abend auf die Zunge beißen.
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(Hausmeisterloge.)
KLAUS FRITZ: Die Stadt war nicht die unbedeutendste, aber wenig ansehnlich. Viel Industrie, Einheitsfassaden, grauer Himmel, graue Häuser. Immerhin war der Menschenschlag herzhaft. Offene Gesichter, die Sprache schnörkellos und ehrlich. Beim Vorspiel bewies ich Strategie. Ich bot Mozarts Violinkonzert in A-Dur, Köchelverzeichnis 219. Technische Fähigkeit und Finesse waren unüberhörbar. Ich vermied Extreme, die bloße Virtuosität. Gleichermaßen die Befremdlichkeiten einer historisch überinformierten Aufführungspraxis oder betontes Künstlertum mit dick auftragendem Pathos und Sentiment. Ich meine damit, ich strich nicht den Solisten mit seiner Attitüde, Eigenwilligkeit, ja seinen Manierismen heraus. Denn eben so wie bei den Orchesterstellen, die ich dann vortrug, ging es darum, ob ich mich in den Klangkörper würde einfügen können, keineswegs um solistische Ambitionen. Mit ihnen wäre ich fehl am Platz gewesen. Viele vergessen das beim Vorspiel, ich nicht. Gerade in einer Position mit deutlichsten Aspirationen hinsichtlich des Konzertmeisteramtes hatte ich vorbildhaft – mustergültig – zu wirken. Diese Haltung sollte bei meinem Vorspiel zu den Mitgliedern des Orchesters durchdringen. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass man schließlich keinen Solisten von internationalem Rang suchte, sondern einen versierten Orchestermusiker in gehobener Stellung. Kaum hatte ich mein Vorspiel beendet, verblüffte mich der Orchestervorstand mit der Frage, ob ich mir klar darüber sei, bei welchem Klangkörper ich mich befände. Ich schluckte. Was hatte ich falsch gemacht? Mühsam die Facon wahrend antwortete ich, mich gegenwärtig in der Stadt aufzuhalten, deren Namen ich, als ich im Bahnhof aus dem Zug gestiegen war, auf dem Ortsschild gelesen hatte und beim Orchester derselben Kommune. Dann nannte ich wie zur Beschwörung den Namen von Stadt und Orchester. Man antwortete, dann sei alles in bester Ordnung. Man habe, während man mein Vorspiel anhörte, vermutet, die Bewerbung habe dem äußerst namhaften Klangkörper der Nachbarstadt gegolten. Denn auch dort hätte man mich sicher genommen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Adieu Blankenburg! Ich hatte es geschafft. Ich war zweiter stellvertretender Konzertmeister des Orchesters der Stadt, in der ich nun Schulhausmeister bin.
8
(Wohnung der Kulturdezernentin.)
KULTURDEZERNENTIN: Glaubst du wirklich, die Theaterleute und Musiker ergeben sich widerstandslos in ihr Schicksal?
OBERBÜRGERMEISTER: Was bleibt ihnen übrig? Die Sache ist entschieden, die Rechtslage eindeutig. Kultur ist eine freiwillige Aufgabe der Städte. Die Betonung liegt auf freiwillig. Mit Theater und Orchester hat es jetzt ein Ende. Es war die freie Entscheidung dieser Stadt, sie zu finanzieren. Nun beschließt der Rat ebenso frei und frank, sie nicht länger zu alimentieren. Wir leben in einer Demokratie, nicht unter dem Diktat von Theater- und Orchesterfunktionären.
KULTURDEZERNENTIN: Wenn du nicht konkret von diesem provinziellen und abgehalfterten Klangkörper und Stadttheater reden würdest, könntest du mich das Fürchten lehren.
OBERBÜRGERMEISTER: Liebe, Kunst ist doch immer der Einzelfall; Qualität entscheidet.
KULTURDEZERNENTIN: Aber auch Qualität beruht darauf, dass sich die Öffentliche Hand freigebig zeigt. Darauf, dass das Gemeinwesen entscheidet, sich in dieser Hinsicht etwas zu leisten.
OBERBÜRGERMEISTER: Ausgerechnet Künstler sollten davor scheuen, sich in einer freien Gesellschaft zu behaupten? Unwägbarkeiten gehören zum Berufsrisiko der Musiker und Theaterleute. Wie sie dem Vorbehalt unterworfen sind, dass die Kommunen kulturelle Einrichtungen betreiben oder eben nicht, bin ich der Gunst meiner Wähler ausgeliefert. Denn auch wir Politiker oder Spitzenbeamte, also selbst wir, die wir für die Öffentlichkeit Bedeutendes leisten und bewirken, hängen ab von Wahlentscheidungen und parlamentarischen Voten.
KULTURDEZERNENTIN: Wann wirst du dich darauf besinnen, dass meine ganze Arbeit auf dein Wohlwollen baut? Wann wirst du meiner Projekte überdrüssig?
OBERBÜRGERMEISTER: Niemals, solange sie in der ganzen Republik erfolgreich für unsere Stadt als kulturaktive und zugleich massentaugliche Erlebniszone werben werden. Meinst du, ich lasse fallen, wofür ich die dicksten Bretter bohren musste? Glaubst du, ich verschwende leichtfertig meine Zeit, meine Kraft, meine Kompetenzen, meinen Ruf?
KULTURDEZERNENTIN: Man hat zuweilen seine Anwandlungen. Ich weiß, ich selbst habe dir die Perspektivlosigkeit von Theater und Orchester nachgewiesen. Aber hinter der Notwendigkeit, Neues zu wagen, stecken doch Menschen, die auf der Strecke bleiben. (Geht kurz in die Küche. Oberbürgermeister schaut sich um. Entdeckt einen Stapel mit großformatigen Papierrollen. Kulturdezernentin kehrt mit einer Flasche Champagner zurück. Reicht sie dem Oberbürgermeister, der sie entkorkt. Kulturdezernentin hat unterdessen zwei Gläser bereitgestellt. Oberbürgermeister schenkt ein. Sie stoßen an. Trinken.) Vergiss meine Zweifel. Ich redete sentimentales Zeug. Du hast ja recht. Also, fort mit Schaden.
OBERBÜRGERMEISTER: (Hebt eine der großen Papierrollen vom Boden auf.) Sind das die neuesten Entwürfe?
KULTURDEZERNENTIN: Finger weg von der Überraschung.
OBERBÜRGERMEISTER: Beste, Politiker, die noch einige Zeit im Geschäft zu bleiben gedenken, lieben Überraschungen nicht. Wer sich überraschen lässt, endet oft im freien Fall. Darf ich also …?
KULTURDEZERNENTIN: Ach du, du Politiker du. Dann lüfte eben das Geheimnis.
OBERBÜRGERMEISTER: (Entrollt den Plan.) Donnerwetter. Die riesige Halle völlig entkernt, die Schönheit der stählernen Konstruktion wie herausgeschält. Monumental. (Lässt den Plan sinken.) – Nicht machbar. Was du vorhast, überschreitet unsere finanziellen Möglichkeiten. Erheblich. Bei weitem.
KULTURDEZERNENTIN: Kann uns das Projekt im ganzen Land Aufmerksamkeit verschaffen?
OBERBÜRGERMEISTER: Ich darf nicht dulden, dass der städtische Haushalt noch weiter in die Schieflage gerät.
KULTURDEZERNENTIN: Der Entwurf gibt nur einen schwachen Eindruck von dem, wie der Bau aussehen wird.
OBERBÜRGERMEISTER: Aber die Finanzierung …
KULTURDEZERNENTIN: … hängt davon ab, wie viel öffentlich-private Kooperation du anbahnen und realisieren kannst. Sich im Glanz solcher Architektur sonnen, die ein wirkliches Alleinstellungsmerkmal wäre und im hell strahlenden Licht von Ausstellungen, die weit über die Region hinaus wirken, wirbt unschlagbar für die ortsansässigen Unternehmen. Denen es eine Ehre sein wird, auf Plakaten und Bannern, in Prospekten, Anzeigen, Spots und vor allem im Netz mit Namen und Firmensignet in diesem einzigartigen Kontext brillieren zu dürfen.
OBERBÜRGERMEISTER: Wir werden sehen. Hoffen wir, unsere heimische Wirtschaft wird die Option begreifen. Ich lege mich kräftig ins Zeug. Provinzialität war dann gestern. (Sie stoßen an.)
9
(Hausmeisterloge.)
KLAUS FRITZ: (Demonstriert.) Meine Espressomaschine. Das Design, augenfällig. Stets modern. Zugleich aber retrospektiv. Klassisch eben. Soweit das Äußere. Entscheidend ist das Innenleben; das Sieb, nicht minder die Düse, durch die das Wasser schießt. – Das Sieb: Dessen Unzahl feinster Durchlässe, vulgo Löcher, Löcher ohne Ende. Wähnt man, sie seien zählbar, dann lasse man die Finger von einer solchen Maschine. Aber was nützt das feinste Sieb ohne die Kraft, mit der die Düse das Wasser durch Pulver und Sieb treibt, drückt und presst? Sieb und Düse entscheiden, was die Maschine anlangt. Meine Sache sind Sauberkeit, Wasserqualität, Wassermenge und Pulver. Die Sauberkeit: Wie im Operationssaal muss sie sein. Ein einziges Körnchen überständigen Espressopulvers, das im Sieb verbliebe, wäre wie das Haar in der Suppe und das Produkt dem wahren Kenner ungenießbar. Eine auch nur leicht verschmutzte Düse, mindert den Wasserdruck und damit die Güte des Espressos in unverzeihlicher Weise. Soweit die technischen und hygienischen Voraussetzungen. Maschine und Sauberkeit gewährleisten allerdings kein bekömmliches Endprodukt, wenn Qualität und Menge des Wassers nicht stimmen oder das Espressopulver zu wünschen lässt. Die Wasserqualität gewährleiste ich, indem ich Mineralwasser verwende. Was die Wassermenge anlangt, so darf diese weder so bemessen sein, dass eine kaffeeartig dünne Brühe dabei herauskommt, noch so, dass in der Tasse eine asphaltähnliche Masse wabert. Das Thema „Pulver“ tendiert gegen unendlich. Zwar gibt der Preis eine gewisse Richtung vor, doch ist alles andere dem Prinzip von Versuch und Irrtum überlassen. Man zahlt da allerhand Lehrgeld. Bestes Pulver ohne die entsprechende Maschine ist die reinste Verschwendung. Umgekehrt ist die tauglichste Espressomaschine nicht in der Lage, minderwertiges Pulver in ein hervorragendes Endprodukt umzuwandeln. Wer indessen eine hochwertige Maschine und entsprechendes Pulver verwendet, aber nicht bereit ist, die peinlichste Reinlichkeit walten zu lassen, wirft sein Geld zum Fenster hinaus. (Probiert.) Woher ich das alles weiß? Aus Erfahrung. Ich unterwarf mich tapfer endlosen Verkostungen. Und litt manches Mal. Dennoch nimmt die experimentelle Kette kein Ende. Ich besuchte unzählige Pizzerien, Trattorien, Osterien. In Italien wie auch hierzulande. Und halte das noch immer so. Ich esse gern. Vor allem gut. Doch das beste Essen ohne den abschließenden Espresso ist nur die Hälfte wert. Ich habe ein verbindliches Wesen. Wie von ungefähr verwickle ich die Padroni und ihre Oberkellner in Fachsimpeleien über Espressomaschinen und die vorzüglichsten Röstereien. Meine Merkfähigkeit ist ausgezeichnet. Dank ihrer wuchs mir ein unvergleichlicher Schatz an Wissen zu. Ich darf sagen, ich stelle fest – ohne dass ich überheblich wirken möchte, aber auch ohne falsche Bescheidenheit – mein Espresso hält Stich mit den Produkten, die die besten italienischen Gastronomen dieser Stadt servieren, ja selbst mit denen der sich gern metropolitan aufführenden Nachbarkommunen. Denn bei mir stimmt alles: Maschine, Sauberkeit, des Wassers Qualität und Menge, das Pulver. (Trinkt.)
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(Büro des Oberbürgermeisters. Klaus Fritz am Bühnenrand.)
INTENDANT: Ignorieren Sie tatsächlich den geballten Bürgerprotest? Tausende beteiligten sich am Demonstrationszug vom Theater zum Rathaus. Tragen sich in Unterschriftenlisten ein. Schreiben geharnischte Eingaben. Unsere Vorstellungen sind ausverkauft. Wir müssen zusätzliche ansetzen. Die Zustimmung des Publikums ist grenzenlos. Abend für Abend springt der Funke über. Wir erhalten Ovationen.
OBERBÜRGERMEISTER: Kommen Sie mir nicht mit solchem Quark. Glauben Sie, irgendwelche Solidaritätsaktionen beeindrucken mich? Schön, Sie bieten einige tausend Leute auf. Ihre Unterschriftenlisten sind lang wie Klopapierrollen und die Verve Ihrer Petitionen donnert und blitzt dramatisch. Das sind die letzten Zuckungen eines Moribunden. Diese Stadt zählt eine Viertelmillion Bürger, deren Mehrheit das Stadttheater noch nie von innen gesehen hat. Auch denen bin ich verpflichtet. Meine Absichten und meine Entschlossenheit, die Kommune voran zu bringen, in der ich aufgewachsen bin und die ich nun regiere, lasse ich mir von niemandem absprechen. Kein Mensch ist dazu berechtigt. Kein Künstler, kein Intendant, keine Demonstranten. Niemand.
KLAUS FRITZ: (Ruft in die Szene.) Mit jedem Konzert und jeder Vorstellung werden wir unsere Relevanz beweisen. Der Zuspruch des Publikums wird genau so wenig abreißen wie die Proteste. Wir, Künstler und Publikum, werden es Ihnen nicht leichtmachen. Wir sind keine Opferlämmer.
KULTURDEZERNENTIN: Bei allem Verständnis. Bei aller Toleranz für das künstlerische Temperament. Es geht hier nicht um eine Frage von Leben und Tod.
KLAUS FRITZ: Ich war dreiundfünfzig. Zu alt, um als Geiger anderenorts noch zu reüssieren. Kein Orchester hätte mich zum Vorspiel eingeladen. Können und Konzertmeisterposition hin, Versiertheit und Kenntnis des Repertoires her. Nach Abwicklung des städtischen Klangkörpers wäre ich aus dem Rennen gewesen. Spät hatte ich mit der Geige begonnen. Viel war aufzuholen gewesen. Ich hatte mir die Nächte mit Üben um die Ohren geschlagen. Mir war gelungen, mit denen, die eher angefangen hatten, gleichzuziehen. Ich hatte erbärmliche Gagen in Kauf genommen, nur um in einem Orchester zu sitzen. Und jetzt, da ich etabliert war, da ich von Pult zu Pult ganz nach vorne gerückt, da ich Konzertmeister war, jetzt sollte ich vor dem Nichts stehen?
KULTURDEZERNENTIN: (Zum Oberbürgermeister.) Darf ich?
OBERBÜRGERMEISTER: Bitte.
KULTURDEZERNENTIN: Es wird einen Sozialplan geben. Wir werden Ihre Leute finanziell großzügig abfinden.
MUSIKDIREKTOR: Verwechseln Sie nicht die Ebenen. Auch mir ist klar, dass keiner von unseren Künstlern mit Korb oder Hut vor den Füßen nach Kleingeld heischend an der Straßenecke geigen, singen oder Balladen vortragen muss. Aber für viele, vor allem die nicht mehr ganz Jungen und die Älteren, ist die künstlerische Laufbahn, jedenfalls die im festen Engagement, beendet.
KLAUS FRITZ: Sollte ich mich mehr schlecht als recht durchschlagen mit irgendwelchen Kirchenkonzerten und seltenen Aushilfstätigkeiten als letzter Notnagel in den Klangkörpern der Region? War es mir bestimmt, musikalischer Gelegenheitsarbeiter zu werden? Statt als wohlbestallter Konzertmeister vor musikalisch gebildetem Publikum das große symphonische Erbe wie auch die zeitgenössische Orchesterliteratur zu pflegen. Nicht mit mir. Nicht mit Klaus Fritz. Nicht mit meinen Kollegen aus dem Orchester. Mein Hausarzt sprach mich auf das Thema an. Ich sagte, es gebe gewiss bedeutendere Musikgenüsse als die von uns fabrizierten. Wobei ich bewusst mein Licht unter den Scheffel stellte, damit ich die Wahrheit zu hören bekam. Der Mediziner fuhr mich geradezu unwirsch an: „Ach, gehen Sie mir mit den Idiotismen eines nicht einmal mittelmäßigen, profilsüchtigen Lokalneurotikers über Ihre vorgebliche künstlerische Nachrangigkeit. Gerade Theater und Orchester motivieren mich, am sonst brachliegenden Kulturleben meiner Stadt teilzunehmen.“
OBERBÜRGERMEISTER: Die Stadt befindet sich mitten im Strukturwandel. Ein Gemeinwesen ringt um seine Zukunft. Was glauben Sie, wie viele Menschen ihr Leben in wenig auskömmlichen Umständen fristen. Diese Kommune, ihre Bürger, müssen sich neu erfinden. Darin liegt die einzige Überlebenschance. Ich höre immer wieder, das Ohr der Künstler lehnt am Puls der Zeit. Sie sind also über die hiesigen Verhältnisse im Bild. Kommen Sie mir nicht mit den Empfindlichkeiten künstlerischen Wesens. Mit der Arroganz von öffentlich-rechtlichen Theater- und Musikfunktionären. Deren elitäres Geschwätz habe ich gründlich satt. Was Ihr ach so Kreativen nicht realisiert, erfahrt es von mir, dem vermeintlichen Kunstverächter: Die Situation, wie sie ist, die Lage selbst, ist schöpferisch. Fassen Sie das. Begreifen Sie die augenblicklichen Schwierigkeiten als Option darauf, Zukunft zu gestalten. Als Herausforderung, neue Wege zu gehen. Kreativität ist die Kernkompetenz des Künstlers. Bin ich es, der Sie daran erinnern muss?
KLAUS FRITZ: (Ruft in die Szene.) Wir sind hier nicht auf einer Wahlkampfveranstaltung. Da gehört Ihre Schönfärberei hin.
KULTURDEZERNENTIN: (Zu Klaus Fritz.) Sie vergreifen sich im Ton.
OBERBÜRGERMEISTER: Lass. Niemand darf sich, ohne dass das Leben ihn straft, ich meine, bis in die Seele hinein mit ihm abrechnet, den Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft verschließen.
KULTURDEZERNENTIN: (Zu Intendant und Musikdirektor.) In wohl jeder Biographie gerät vieles anders, als den eigenen Wünschen und Zielen entspricht. Aber wenn Ihre Mitarbeiter begreifen, dass der harte Schnitt nicht persönliches Scheitern bedeutet, sondern Perspektive, vielleicht ungeahnte Aussichten, auf die hinzuarbeiten bislang nicht das Talent, aber der Mut fehlte, dann werden sie sich schon bald wieder auf der Gewinnerseite sehen.
KLAUS FRITZ: (Ruft in die Szene.) Klingt nach einer Binsenweisheit aus einem jener Ratgeber, die auf Kaufhauswühltischen verhökert werden.
KULTURDEZERNENTIN: (Zu Klaus Fritz.) Wir sind noch immer wohlmeinend.
OBERBÜRGERMEISTER: (Zu Klaus Fritz.) In Zukunft scheiden sich die Wege. Der meiner Stadt zielt auf Erfolg, ich kenne die Richtung. Der Trampelpfad, auf dem Leute wie Sie ihr sentimentales Gemüt schleppen, mündet hinter der Fichte des Selbstbetrugs.
KLAUS FRITZ: Besoffen, beide sind besoffen. Abgefüllt mit eigener Bedeutung.
MUSIKDIREKTOR: Während wir hier reden, wird mir bewusst, wie wenig zutrifft, was ich bislang für selbstverständlich hielt. Dass ein Oberbürgermeister weiß, was eine Stadt seiner Größenordnung ausmacht.
INTENDANT: Urbanes Leben geht über die blanke Ökonomie hinaus.
OBERBÜRGERMEISTER: Meine Zeit für Luxusprobleme ist begrenzt. Wir sind zu Ende.
KLAUS FRITZ: So weit das Streitgespräch aus dem bürgerlichen Heldenleben. Schon damals hätte es durch einen ganz anderen Diskurs ersetzt werden müssen. Schon damals.
11
(Die Bühne ist leer. Ein Violinkonzert. Klaus Fritz aufmerksam zuhörend. Die Musik bricht ab.)
KLAUS FRITZ: Dieser Ton. Raumgreifend, aber nicht aufdringlich. Satt, aber ohne Überfluss. Voller Empfindung, nicht sentimental. Rund, doch nicht bloß gefällig. Der Ton ist Alpha und Omega. Wem der Ton fehlt, mag spielen, wie er will, er wird kein wirklich Bedeutender werden können. Größe muss der Ton haben, keine Überheblichkeit, kein Renommieren, wahre Größe. Kraft gehört dazu, Kraft ohne Protzerei. Der hier spielte, hat alles das. Nichts fehlt. Meine Güte, wie oft habe ich diese Aufnahme schon gehört, darauf gewartet, darauf gelauert, erhofft, ich würde etwas finden, an dem sich deuteln ließe. Nichts. Nichts. Stattdessen entdecke ich bei jedem neuen Abspielen wahrhaft unerhörte Schönheiten. Ich habe den Mann auch auf dem Konzertpodium erlebt, in der Berliner Philharmonie. Ich saß ganz vorn, ihm unmittelbar gegenüber, gab Acht auf sein Spiel, als sei ich Detektiv und schaute einem des Diebstahls Verdächtigen auf die Finger, jederzeit in Erwartung des Delikts. Der damals und wohl für ewig Größte besaß die Nerven, nicht allein die unglaublich fordernden Passagen zu bewältigen, sondern auch das Auditorium zu beobachten. Ich fiel ihm ins Auge. Er blickte mich an, nahm mich merklich wahr. Scharf und durchdringend fokussierte er sich auf mich durchaus Geringen unter seinen Zuhörern. Die hürdenreichste Strecke des Konzerts dräute. Während der Unvergleichlichste der Unvergleichlichen sie meisterte wie niemand zuvor oder seither, fixierte mich sein Blick mit Hammer und Nägeln. Ich bilde mir nicht ein, dass er in diesem Moment nur für mich spielte, sicher nicht; gewiss aber in erster Linie. Mich durchfuhr ein Schrecken, indem mir blitzartig aufging, was ich vorher nur erahnt hatte. Künftig wusste ich, Schönheit ist keine abstrakte Idee, sondern ein lebendiges Wesen. Das uns Menschen liebt. Und sich mit uns vereinigen möchte. Mit dem, was wir Seele nennen. Auch mit unserem Leib. – Es gibt Augenblicke, die für das ganze Leben prägen. Der in der Berliner Philharmonie gehörte dazu. Ich begegnete einem Künstler, dem sein daimon gebot. Der Rest ist in diesem Fall Schweigen. (Das Violinkonzert.)