Michael Kaminski

Herr Fritz

Die Titelfigur erfreut sich eines Wiedergängers jenseits der Bühne. Nach einzigartiger Karriere als Konzertmeister eines symphonischen Orchesters und anschließend Schulhausmeister im sozialen Brennpunkt steht Klaus Fritz inzwischen kurz vor dem hochverdienten Ruhestand. Die Fährnisse des Künstlers und Facility-Managers singen das Hohe Lied flexibler Werktätigkeit. Und zertrümmern ihr Denkmal.

Copyrightvemerk: Alle Rechte beim Autor. Michael Kaminski 2020.

Bildnachweis:  Old violin von Frinck51 , Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE Modifizierung: Schwarz-Weiß

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Leseprobe

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(Hausmeisterloge.)

Klaus Fritz: (Demonstriert.) Meine Espressomaschine. Das Design, augenfällig. Stets modern. Zugleich aber retrospektiv. Klassisch eben. Soweit das Äußere. Entscheidend ist das Innenleben; das Sieb, nicht minder die Düse, durch die das Wasser schießt. – Das Sieb. Dessen Unzahl feinster Durchlässe, vulgo Löcher, Löcher ohne Ende. Wähnt man, sie seien zählbar, dann lasse man die Finger von einer solchen Maschine. Aber was nützt das feinste Sieb ohne

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die Kraft, mit der die Düse das Wasser durch Pulver und Sieb treibt, drückt und presst? Sieb und Düse entscheiden, was die Maschine anlangt. Meine Sache sind Sauberkeit, Wasserqualität, Wassermenge und Pulver. Die Sauberkeit: Wie im Operationssaal muss sie sein. Ein Sieb, in dem ein einziges Körnchen überständigen Espressopulvers verbliebe, wäre wie das Haar in der Suppe und das Produkt dem wahren Kenner ungenießbar. Eine auch nur leicht verschmutzte Düse, mindert den Wasserdruck und damit die Güte des Espressos in unverzeihlicher Weise. Soweit die technischen und hygienischen Voraussetzungen. Maschine und Sauberkeit gewährleisten allerdings kein bekömmliches Endprodukt, wenn Qualität und Menge des Wassers nicht stimmen oder das Espressopulver zu wünschen lässt. Die Wasserqualität gewährleiste ich, indem ich Mineralwasser verwende. Was die Wassermenge anlangt, so darf diese weder so bemessen sein, dass eine kaffeeartig dünne Brühe dabei herauskommt, noch so, dass in der Tasse eine asphaltähnliche Masse wabert. Das Thema „Pulver“ tendiert gegen unendlich. Zwar gibt der Preis eine gewisse Richtung vor, doch ist alles andere dem Prinzip von Versuch und Irrtum überlassen. Man zahlt da allerhand Lehrgeld. Bestes Pulver ohne die entsprechende Maschine ist die reinste Verschwendung. Umgekehrt ist die tauglichste Espressomaschine nicht in der Lage, minderwertiges Pulver in ein hervorragendes Endprodukt umzuwandeln. Wer indessen eine hochwertige Maschine und entsprechendes Pulver verwendet, aber nicht bereit ist, die peinlichste Reinlichkeit walten zu lassen, wirft sein Geld zum Fenster hinaus. (Probiert.) Woher ich das alles weiß? Aus Erfahrung. Ich unterwarf mich tapfer endlosen Verkostungen. Und litt manches Mal. Dennoch

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nimmt die experimentelle Kette kein Ende. Ich besuchte unzählige Pizzerien, Trattorien, Osterien. In Italien wie auch hierzulande. Und halte das noch immer so. Ich esse gern. Vor allem gut. Doch das beste Essen ohne den abschließenden Espresso ist nur die Hälfte wert. Ich habe ein verbindliches Wesen. Wie von ungefähr verwickle ich die Padroni und ihre Oberkellner in Fachsimpeleien über Espressomaschinen und die vorzüglichsten Röstereien. Meine Merkfähigkeit ist ausgezeichnet. Dank ihrer wuchs mir ein unvergleichlicher Schatz an Wissen zu. Ich darf sagen, ich stelle fest – ohne dass ich überheblich wirken möchte, aber auch ohne falsche Bescheidenheit – mein Espresso hält Stich mit den Produkten, die die besten italienischen Gastronomen dieser Stadt servieren, ja selbst mit denen der sich gern metropolitan aufführenden Nachbarkommunen. Denn bei mir stimmt alles: Maschine, Sauberkeit, des Wassers Qualität und Menge, das Pulver. (Trinkt.)

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(Amtsraum des Oberbürgermeisters. Klaus Fritz am Bühnenrand.)

Intendant: Ignorieren Sie tatsächlich den geballten Bürgerprotest? Tausende beteiligten sich am Demonstrationszug vom Theater zum Rathaus. Tragen sich in Unterschriftenlisten ein. Schreiben geharnischte Eingaben. Unsere Vorstellungen sind ausverkauft. Wir müssen zusätzliche ansetzen. Die Zustimmung des Publikums ist grenzenlos. Abend für Abend springt der Funke über. Wir

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erhalten Ovationen.

Oberbürgermeister: Kommen Sie mir nicht mit solchem Quark. Glauben Sie, irgendwelche Solidaritätsaktionen beeindrucken mich? Schön, Sie bieten einige tausend Leute auf. Ihre Unterschriftenlisten sind lang wie Klopapierrollen und die Verve Ihrer Petitionen donnert und blitzt dramatisch. Das sind die letzten Zuckungen eines Moribunden. Diese Stadt zählt eine Viertelmillion Bürger, deren Mehrheit das Stadttheater noch nie von innen gesehen hat. Auch denen bin ich verpflichtet. Meine Absichten und meine Entschlossenheit, die Kommune voran zu bringen, in der ich aufgewachsen bin und die ich nun regiere, lasse ich mir von niemandem absprechen. Kein Mensch ist dazu berechtigt. Kein Künstler, kein Intendant, keine Demonstranten. Niemand.

Klaus Fritz:(Ruft in die Szene.) Mit jedem Konzert und jeder Vorstellung werden wir unsere Relevanz beweisen. Der Zuspruch des Publikums wird genau so wenig abreißen wie die Proteste. Wir, Künstler und Publikum, werden es Ihnen nicht leichtmachen. Wir sind keine Opferlämmer.

Kulturdezernentin: Bei allem Verständnis. Bei aller Toleranz für das künstlerische Temperament. Es geht hier nicht um eine Frage von Leben und Tod.

Klaus Fritz: Ich war dreiundfünfzig. Zu alt, um als Geiger anderenorts noch zu reüssieren. Kein Orchester hätte mich zum Vorspiel eingeladen. Können und Konzertmeisterposition hin, Versiertheit und Kenntnis des Repertoires her. Nach

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Abwicklung der städtischen Symphoniker wäre ich aus dem Rennen gewesen. Spät hatte ich mit der Geige begonnen. Viel war aufzuholen gewesen. Ich hatte mir die Nächte mit Üben um die Ohren geschlagen. Mir war gelungen, mit denen, die eher angefangen hatten, gleichzuziehen. Ich hatte erbärmliche Gagen in Kauf genommen, nur um in einem Orchester zu sitzen. Und jetzt, da ich etabliert war, da ich von Pult zu Pult ganz nach vorne gerückt, da ich Konzertmeister war, jetzt sollte ich vor dem Nichts stehen?

Kulturdezernentin: (Zum Oberbürgermeister.) Darf ich?

Oberbürgermeister: Bitte.

Kulturdezernentin: Es wird einen Sozialplan geben. Wir werden Ihre Leute finanziell großzügig abfinden.

Musikdirektor: Verwechseln Sie nicht die Ebenen. Auch mir ist klar, dass keiner von unseren Künstlern mit vor sich hingelegtem Hut nach Kleingeld heischend an der Straßenecke geigen, singen oder Balladen vortragen muss. Aber für viele, vor allem die nicht mehr ganz Jungen und die Älteren, ist die künstlerische Laufbahn, jedenfalls die im festen Engagement, beendet.

Klaus Fritz: Sollte ich mich mehr schlecht als recht durchschlagen mit irgendwelchen Kirchenkonzerten und seltenen Aushilfstätigkeiten als letzter Notnagel in den Klangkörpern der Region? War es mir bestimmt, musikalischer Gelegenheitsarbeiter zu werden? Statt als wohlbestallter

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Konzertmeister vor musikalisch gebildetem Publikum das große symphonische Erbe wie auch die zeitgenössische Orchesterliteratur zu pflegen. Nicht mit mir. Nicht mit Klaus Fritz. Nicht mit meinen Kollegen aus dem Orchester. Mein Hausarzt sprach mich auf das Thema an. Ich sagte, es gebe gewiss bedeutendere Musikgenüsse als die von uns fabrizierten. Wobei ich bewusst mein Licht unter den Scheffel stellte, damit ich die Wahrheit zu hören bekam. Der Mediziner fuhr mich geradezu unwirsch an: >Ach gehen Sie mir mit den Idiotismen eines nicht einmal mittelmäßigen, profilsüchtigen Lokalneurotikers über Ihre vorgebliche künstlerische Nachrangigkeit. Gerade Theater und Orchester motivieren mich, am sonst brachliegenden Kulturleben meiner Stadt teilzunehmen.<

Oberbürgermeister: Die Stadt befindet sich mitten im Strukturwandel. Ein Gemeinwesen ringt um seine Zukunft. Was glauben Sie, wie viele Menschen ihr Leben in wenig auskömmlichen Umständen fristen. Diese Kommune, ihre Bürger, müssen sich neu erfinden. Darin liegt die einzige Überlebenschance. Ich höre immer wieder, das Ohr der Künstler lehnt am Puls der Zeit. Sie sind also über die hiesigen Verhältnisse im Bild. Kommen Sie mir nicht mit den Empfindlichkeiten künstlerischen Wesens. Mit der Arroganz von öffentlich-rechtlichen Theater- und Musikfunktionären. Deren elitäres Geschwätz habe ich gründlich satt. Was Ihr ach so Kreativen nicht realisiert, erfahrt es von mir, dem vermeintlichen Kunstverächter: Die Situation, wie sie ist, die Lage selbst, ist schöpferisch. Fassen Sie das. Begreifen Sie die augenblicklichen Schwierigkeiten als Option darauf,

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Zukunft zu gestalten. Als Herausforderung, neue Wege zu gehen. Kreativität ist die Kernkompetenz des Künstlers. Bin ich es, der Sie daran erinnern muss?

Klaus Fritz: (Ruft in die Szene.) Wir sind hier nicht auf einer Wahlkampfveranstaltung. Da gehört Ihre Schönfärberei hin.

Kulturdezernentin: (Zu Klaus Fritz.) Sie vergreifen sich im Ton.

Oberbürgermeister: Lass. Niemand darf sich, ohne dass das Leben ihn straft, ich meine, bis in die Seele hinein mit ihm abrechnet, den Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft verschließen.

Kulturdezernentin: In wohl jeder Biographie gerät vieles anders, als den eigenen Wünschen und Zielen entspricht. Aber wenn Ihre Mitarbeiter begreifen, dass der harte Schnitt nicht persönliches Scheitern bedeutet, sondern Perspektive, vielleicht ungeahnte Aussichten, auf die hinzuarbeiten bislang nicht das Talent, aber der Mut fehlte, dann werden sie sich schon bald wieder auf der Gewinnerseite sehen.

Klaus Fritz: (Ruft in die Szene.) Klingt nach einer Binsenweisheit aus einem jener Ratgeber, die auf Kaufhauswühltischen verhökert werden.

Kulturdezernentin: (Zu Klaus Fritz.) Wir sind noch immer wohlmeinend.

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Oberbürgermeister: (Zu Klaus Fritz.) In Zukunft scheiden sich die Wege. Der meiner Stadt zielt auf Erfolg, ich kenne die Richtung. Der Trampelpfad, auf dem Leute wie Sie das sentimentale Gemüt schleppen, mündet hinter der Fichte des Selbstbetrugs.

Klaus Fritz: Besoffen, beide sind besoffen. Abgefüllt mit eigener Bedeutung.

Musikdirektor: Während wir hier reden, wird mir bewusst, wie wenig zutrifft, was ich bislang für selbstverständlich hielt. Dass ein Oberbürgermeister weiß, was eine Stadt seiner Größenordnung ausmacht.

Intendant: Urbanes Leben geht über die blanke Ökonomie hinaus.

Oberbürgermeister: Meine Zeit für Luxusprobleme ist begrenzt. Wir sind zu Ende.

Klaus Fritz: So weit das Streitgespräch aus dem bürgerlichen Heldenleben. Schon damals hätte es durch einen ganz anderen Diskurs ersetzt werden müssen. Schon damals.

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(Die Bühne ist leer. Ein Violinkonzert. Klaus Fritz aufmerksam zuhörend. Die Musik bricht ab.)

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Klaus Fritz: Dieser Ton. Raumgreifend, aber nicht aufdringlich. Satt, aber ohne Überfluss. Voller Empfindung, nicht sentimental. Rund, doch nicht bloß gefällig. Der Ton ist Alpha und Omega. Wem der Ton fehlt, mag spielen, wie er will, er wird kein wirklich Bedeutender werden können. Größe muss der Ton haben, keine Überheblichkeit, kein Renommieren, wahre Größe. Kraft gehört dazu, Kraft ohne Protzerei. Der hier spielte, hat alles das. Nichts fehlt. Meine Güte, wie oft habe ich diese Aufnahme schon gehört, darauf gewartet, darauf gelauert, erhofft, ich würde etwas finden, an dem sich deuteln ließe. Nichts. Nichts. Stattdessen entdecke ich bei jedem neuen Abspielen wahrhaft unerhörte Schönheiten. Ich habe den Mann auch auf dem Konzertpodium erlebt, in der Berliner Philharmonie. Ich saß ganz vorn, ihm unmittelbar gegenüber, gab Acht auf sein Spiel, als sei ich Detektiv und schaute einem des Diebstahls Verdächtigen auf die Finger, jederzeit in Erwartung des Delikts. Der damals und wohl für ewig Größte besaß die Nerven, nicht allein die unglaublich fordernden Passagen zu bewältigen, sondern auch das Auditorium zu beobachten. Ich fiel ihm ins Auge. Er blickte mich an, nahm mich merklich wahr. Scharf und durchdringend fokussierte er sich auf mich durchaus Geringen unter seinen Zuhörern. Die hürdenreichste Strecke des Konzerts dräute. Während der Unvergleichlichste der Unvergleichlichen sie meisterte wie niemand zuvor oder seither, fixierte mich sein Blick mit Hammer und Nägeln. Ich bilde mir nicht ein, dass er in diesem Moment nur für mich spielte, sicher nicht, gewiss aber in erster Linie. Mich durchfuhr ein Schrecken, indem mir blitzartig aufging, was ich vorher nur erahnt hatte. Künftig wusste ich, Schönheit ist keine abstrakte

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Idee, sondern ein lebendiges Wesen. Das uns Menschen liebt. Und sich mit uns vereinigen möchte. Mit dem, was wir Seele nennen. Auch mit unserem Leib. – Es gibt Augenblicke, die für das ganze Leben prägen. Der in der Berliner Philharmonie gehörte dazu. Ich begegnete einem Künstler, dem sein daimon gebot. Der Rest ist in diesem Fall Schweigen. (Das Violinkonzert.)

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(Wohnung der Kulturdezernentin.)

Oberbürgermeister: Der Spuk muss ein Ende haben. Wer sich mir in den Weg stellt, wird stürzen. Mittelmaß und Gestern trete ich zu Staub. Ich werde die Dunstglocke von Unproduktivität, die über dieser Stadt hängt, durchstoßen.

Kulturdezernentin: Das Stadttheater liquidierst du und sprichst mir den jugendlichen Helden vor. Spar deine Kräfte. Du wirst sie brauchen. Um deinen Rechtsverdrehern einzuschärfen, wie entscheidend für ihre Karriere es ist, Theater und Orchester formal und sachlich unanfechtbar und in der Wirkung nachhaltig abzuwickeln. Je alternativloser und eleganter du dich aus der Affäre ziehst, desto günstiger die öffentliche Meinung.

Oberbürgermeister: Diese Musiker, Sänger, Schauspieler, dies fahrende Volk, es soll hinscheiden. Die Abfindungen, für die wir doch eine Menge Geld auswerfen, nehmen. Nicht länger Missmut in den Organismus der Kommune eitern. Sich aus der

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Stadt scheren. Zu wenige dieser Leute begreifen, dass sie unerwünscht sind. Die Frechsten dieser Frechen bestehen gar auf Weiterbeschäftigung. Als was? Soll ich die amtlichen Bekanntmachungen durch einen Schauspieler im Heroldskostüm verkünden lassen? Ein Streichquartett ins Rathausfoyer setzen? Was stellen sich diese Mimen und Musiker vor?

Kulturdezernentin: Die gesicherte Kleinbürgerexistenz.

Oberbürgermeister: Spießerglück? Gehören Künstler nicht zu einer anderen Spezies? Einer unternehmenden, umtriebigen. Stets auf Wanderschaft. Meist scheiternd.

Kulturdezernentin: Du jonglierst uralte Klischees. Die rein gar nichts mit dem Wesen der Künstler zu schaffen haben. Sondern mit den ungesicherten Verhältnissen, in denen die Spitze der Gesellschaft, die herrschende Klasse, wenn du so willst, sie darben ließ. Und lässt. Nicht weil sie sich danach sehnen herumzuvagabundieren, wählen die meisten Theaterleute ihren Beruf, mehrheitlich sind sie ebenso gern sesshaft wie wir.

Oberbürgermeister: Künstler, dein Name ist Biedermeier.

Kulturdezernentin: Das Arbeitsrecht zwingt uns, denen, die es wünschen, Stellen anzubieten. Jammern nützt also nicht.

Oberbürgermeister: Was werden die schon können außer Fideln, Singen, Deklamieren?

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Kulturdezernentin: Viele von ihnen hatten lange Durststrecken durchzustehen, ehe sie ins Engagement kamen. Nicht wenige absolvierten eine ganz und gar unspektakuläre Berufsausbildung und sammelten auch praktische Erfahrungen.

Oberbürgermeister: Die waren sich eben ihres Talents nicht sicher. Kein Wunder, über das Mittelmaß sind sie schließlich nie hinausgelangt. Dass solch dürftige Leistung auf Dauer nicht reichen würde, war doch voraussehbar.

Kulturdezernentin: Wie auch immer, einfach abwimmeln kann man sie nicht. Um Offerten kommen wir nicht herum.

Oberbürgermeister: Dann werden unsere Vorschläge an der Ehre, am Selbstwertgefühl, der Bewerber kratzen müssen. Einfachste Tätigkeiten, mehr wird die Stadt ihnen nicht bieten. Parksünder aufschreiben, Laub picken, Gräber schaufeln, ich lasse einen Katalog aufstellen, der jeden, der auf Weiterbeschäftigung pocht, in die Flucht schlägt. Diese Stadt ist dann nicht nur theaterfrei, sondern – beinahe besser noch – frei von Theaterleuten. Die Zukunft beginnt. Wunderbare Tage stehen bevor.

Kulturdezernentin: Gehört das zwingend zur Politik? Sich die Dinge so lange schön zu reden, bis sie an die Wunschbilder angepasst sind?

Oberbürgermeister: Ich weiß nicht, ob es branchenspezifisch ist, vom besten der anzunehmenden Fälle auszugehen, oder ob es den eher optimistischen Typus häufiger in die Politik

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zieht als andere Naturen. Aber diese Eigenschaft gibt mir nun auch Anlass, dir mitzuteilen, dass ich die Western Estate gewinnen konnte, sich mit einem mehr als namhaften Betrag an unserem Projekt zu beteiligen. Damit, meine Liebe, ist die Finanzierung in trockenen Tüchern.

Kulturdezernentin: Ich bin … sprachlos. Beinahe. Chapeau!

Oberbürgermeister: Mehr noch als an den Lieben Gott glaube ich an die Zukunft meiner Stadt. Das macht mich zum Menschenfischer.

Kulturdezernentin: Du erstaunst mich immer wieder.

Oberbürgermeister: Wäre es anders, dann hätte ich mein Pulver verschossen und wäre am Ende.

Kulturdezernentin: Manchmal bin ich nahe daran, an dir zu zweifeln. Aber im letzten Augenblick zauberst du immer wieder ein Karnickel aus dem Zylinder.

Oberbürgermeister: Ich baue auf meine Zuversicht. Auf dich. Mich. Ich gehe nicht über Leichen. Aber ich bringe Untote wie diese Theaterleute zur Strecke.

II
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(Hausmeisterloge.)

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Klaus Fritz: Wir wurden geschlachtet. Unter Rücksichtnahme auf das Tierschutzgesetz. Wie allem Schlachtvieh, verabreichte man daher auch uns eine Betäubung vor dem tödlichen Stich, der uns ausblutete. Das Narkotikum hieß Abfindung. Die sich als Zahl und Betrag recht ordentlich ausnahm. Und viele meiner Kolleginnen und Kollegen mindestens ruhigstellte. Strichen sie doch ein Sümmchen ein, das ihnen vortäuschte, den Verlust des Arbeitsplatzes sozialverträglich, ja sogar komfortabel, abzufedern. Die Mehrheit im Orchester betrachtete die Abfindung daher als Startgeld in die Zukunft. Aber nachdem sich die Steuer bedient hatte, erschienen die Aussichten nicht länger gar so rosig. Einige der Jüngeren kamen tatsächlich in anderen Klangkörpern unter. Die Mittelalten und Älteren mussten schmerzlich erfahren, dass sie nicht einmal zum Vorspiel eingeladen wurden. Sie verdingten sich mit befristeten Verträgen an Musikschulen oder hielten sich mit privatem Unterricht auf ihrem Instrument kaum leidlich über Wasser. Nur wenige von uns pochten auf ihrem Recht, von der Stadt weiterbeschäftigt zu werden. Die Stellenangebote empörten. Wenige ließen sich darauf ein, versahen künftig subalterne Dienste als Politesse oder in der Registratur. Ich wurde Hausmeister. Wie jene Posten, die meine Kollegen antraten, kein Ausbildungs-, sondern ein Anlernberuf. Ich hätte jede Stelle angenommen. Für nichts wäre ich mir zu schade gewesen. Sie kennen das berühmte Foto eines Erwerbslosen aus der Zeit der großen Depression nach dem New Yorker Börsenkrach von 1929? Ein Mann, korrekt im Anzug, ein Plakat um den Hals mit der Aufschrift >Suche Arbeit jeder Art<. Wie dieser Mann kam ich mir vor. Kräftigst hatte ich mich im

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Widerstand gegen die Auflösung des Orchesters ins Zeug gelegt. Man bot mir in voller Anerkennung meines Einsatzes eine Position, die ich rundweg hätte ausschlagen müssen, wäre noch ein trauriger Rest von Schamgefühl mein Eigen gewesen; die des Hausmeisters an dieser Schule. Dennoch akzeptierte ich die unsägliche Offerte. Später erfuhr ich, dass einige Leute im Personalamt sich schon bevor ich meine Arbeit aufnahm, händereibend ausgemalt hatten, wie ich an den neuen Herausforderungen scheitern würde. Man wähnte mich binnen kürzester Frist abgeschreckt und aufgezehrt von den entwürdigenden Verrichtungen und banalsten – für einen Künstler aber unlösbaren – technischen Problemen. Zudem zerrieben zwischen Schulleitung, Stadtverwaltung, renitenten Reinigungskräften. Von den Schülern ob meiner Unbeholfenheit verspottet und gedemütigt. Kurz, man wettete darauf, dass ich bereits nach wenigen Tagen das Handtuch werfen würde. Die Voraussetzungen dazu waren allerdings gegeben. Als ich mich dem Schulleiter vorstellte, war dieser fassungslos über mein Ansinnen, die Ablehnung quoll ihm aus allen Poren. Während ich dabeistand, flehte er meine Vorgängerin an, ihn nicht zu verlassen. Ein empfindsameres oder von sich eingenommeneres Gemüt als das meine hätte verzweifelt oder wutschäumend den Rückzug angetreten. Ich aber hielt durch. An Demütigungen hatte ich mich mittlerweile gewöhnt, auch die gegenwärtige würde ich ertragen. In der Evolution überlebt, wer sich am besten anpasst. Ich hatte nicht vor, unter die Räder zu kommen, sondern war fest entschlossen, die Stelle als Hausmeister professionell auszufüllen. Da ich es nicht schätze, mir sonderliche Blößen zu geben, hatte ich meiner Vorgängerin bereits seit vierzehn Tagen über die

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Schulter geblickt und war ihr zur Hand gegangen. Meinen guten Willen hatte ich also hinreichend dokumentiert. Dennoch blieb ich dem Schulleiter durch und durch suspekt. Zwar erkannte er an, dass ich mich bemühte, in die Hausmeistertätigkeit hineinzufinden, allerdings ohne dass ihm diese Einsicht Vertrauen in meine Fähigkeiten einflößte. Mangels Alternative willigte er missmutig in meine Zuweisung an seine Schule. Doch ging nicht allein sein Blick von meinem baldigen Rückzug aus. Der Schulleiter grüßte knapp und machte auf dem Absatz kehrt. Noch seine Rückansicht zeigte, wie wenig sein künftiger und – so mutmaßte er – wohl nur kurzfristiger Hausmeister ihm behagte. Ich hatte nicht damit gerechnet, mit offenen Armen empfangen zu werden. Ein Konzertmeister als Hausmeister; hätte ich die Situation von außen betrachtet, auch mir wäre solch sprunghafte Karriere gründlich verkehrt vorgekommen. Sei dem wie ihm sei, ich war zum Erfolg entschlossen.

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(Die Bühne ist leer.)

Intendant: Freund, ich fühle mich … Ich weiß nicht wie. Etwas geht vor in mir. Eine Wandlung, die alle Zellen meines Körpers erfasst. Ich war Mann. Jetzt werde ich … Na, wer wohl? (Reißt sich den Anzug vom Leib, darunter weibliche Kleidung.) Schau, ich bin eine Frau. Kann man prinzipieller umgeschaffen werden? Da staunst du, was?

Musikdirektor: Na ja, na ja.

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Intendant: Nenn mich Grete.

Musikdirektor: Also bitte, Grete.

Grete: Und du, wirst nicht auch du neu erschaffen?

Musikdirektor: Ach ja, ach ja. Es ist wohl notwendig. Mein altes Selbst. Ist meistenteils fort. Für welches neue Ich wird mein Restmensch reichen?

Grete: Wer wirst du sein? Auch eine Frau? Ich muss dir sagen, ich fühle mich nicht unwohl in meiner Haut.

Musikdirektor: Glaube ich gerne. Aber eine Frau ist mir … Sie ist mir … zu weiblich.

Grete: Wer willst du dann sein?

Musikdirektor: Künftig bin ich Hans.

Grete: Wunderbar. Ich bin Grete, du bist Hans.

Hans: Ich bin Hans, du bist Grete. Fein.

Grete: Du Hans, ich spiele ein Instrument.

Hans: Was denn für eines?

Grete: Klarinette.

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Hans: Schön. Wunderschön. – Aber auch ich spiele ein Instrument.

Grete: Was denn für eines?

Hans: Geige.

Grete: Schön. Wunderschön. – Ich war sogar in einem Orchester.

Hans: Ich auch. Ich auch. Ich war auch in einem Orchester.

Grete: Schön. Wunderschön. In welchem?

Hans: In dem und dem.

Grete: Dem und dem? Am Ende dem? Schön. Wunderschön. Am Ende war ich auch darin. Schön. Wunderschön. – Aber doch nicht ganz so schön. Unser Orchester wurde abgeschafft. Jetzt, wo ich daran denke, werde ich traurig.

Hans: Ich auch. Ich auch. – Halt. Halt! Wenn du im selben Orchester warst, dann … dann müssen wir uns doch kennen.

Grete: Wir müssen uns kennen. Ja! Wir kennen uns auch.

Hans: Und wie! Und wie!

Grete: Schön. Wunderschön.

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Hans: Schön. Wunderschön.

Grete: Gar nicht schön. Da müssen wir traurig sein. Schließlich wurden wir liquidiert.

Hans: Schon. Schon. Aber weißt du, Grete, geteiltes Leid ist halbes Leid. Wir wollen unser Leid teilen, dann leiden wir nur halb.

Grete: Das wollen wir. – Lieber Hans.

Hans: Liebe Grete.

(Ein Postbote tritt auf. Hans und Grete erhalten je einen Brief. Postbote ab.)

Grete: (Sieht den Brief an.) Von der Stadtverwaltung.

Hans: (Sieht den Brief an.) Meiner auch.

(Sie öffnen die Briefe und lesen.)

Grete: Die Stadt bietet mir eine Stelle an. Ich soll Parksünder aufschreiben.

Hans: Parksünder aufschreiben soll auch ich.

Grete: Magst du Parksünder aufschreiben?

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Hans: Ich denke nicht daran.

Grete: Eine Zumutung.

Hans: Was glauben die, wer wir sind?

Grete: Habe ich studiert, um Parksünder aufzuschreiben?

Hans: Hast du nicht. Auch ich habe nicht studiert, um Parksünder aufzuschreiben.

Grete und Hans: Studierten wir Parksünde?

(Zwei Säcke fallen vom Schnürboden. Auf dem einen steht >Hans<, auf dem anderen >Grete<.)

Grete: (Liest.) Der ist für dich. Der ist für mich.

Hans: (Öffnet den Sack. Holt Geldscheine heraus.) Meine Abfindung.

Grete: (Öffnet den Sack. Holt Geldscheine heraus.) Meine Abfindung.

Hans: Eine ziemliche Summe.

Grete: Eine ziemliche Summe.

Hans: Schön. Wunderschön.

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Grete: Schön. Wunderschön.

Hans: Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Grete: Geteilte Freude ist doppelte Freude.

Hans und Grete: Doppelte Freude, juchei!

Hans: Juchei!

Grete: Juchei!

Hans und Grete: Juchei!

Grete: Was machst du mit dem Geld, lieber Hans?

Hans: Eines steht fest, ich werde vorsichtig sein und mich beraten lassen. Ich bin so viel Geld nicht gewohnt.

Grete: Glaubst du, ich? Man darf nichts übereilen.

Hans: Vorsicht ist das Gebot der Stunde.

Grete: (Traurig.) Vorsicht.

Hans: Was hast du, liebe Grete?

Grete: Ich bin wieder traurig. – Lieber säße ich jetzt im Orchester und spielte auf meiner Klarinette.

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Hans: Wenn ich daran denke, werde auch ich traurig. Und trauriger. Geld, schön und gut. – Lieber säße ich jetzt im Orchester und spielte auf meiner Geige.

Grete: Unser Orchester.

Hans: Unser Orchester.

Grete: (Lässt einige Geldscheine durch ihre Finger gleiten.) Geld.

Hans: (Lässt einige Geldscheine durch seine Finger gleiten.) Geld. (Dunkel.)

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