Wölfe und Weltkulturerbe

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Großes Haus © Silke Winkler
Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Großes Haus © Silke Winkler

Unter die Schatten spendenden Bogenstellungen des dem Haupteingang zum Schweriner Staatstheater vorgelagerten Altans hat sich ein Rollstuhlfahrer vor der Sommerhitze geflüchtet. Der Mann in fortgeschrittenen Jahren erweist sich als unaufdringlich kommunikativ und mit allerhand Hinweisen auf Öffnungszeiten und Spielstätten gefällig. Im Innenhof des Schlosses werde „Was ihr wollt“ gegeben, auf der Seebühne „Dogs“, ein Musical, dessen Besucher ausdrücklich gebeten seien, die vierbeinigen Gefährten mitzubringen. Das Spektrum der vom Staatstheater ausgerichteten Schlossfestspiele ist breit. Im historischen Großen Haus, vor dessen Portikusfassade wir stehen, wird in gut zwei Stunden „Wölfe. Dokumentarische Naturoper aus Mecklenburg“ mit der Musik der Estnin Helena Tulve auf ein Libretto der Schweriner Hausregisseurin Nina Gühlstorff über die Bühne gehen.

Mecklenburgisches Staatstheater, Großes Haus, Seitenansicht, © Privat
Mecklenburgisches Staatstheater, Großes Haus, Seitenansicht, Foto privat

Bis dahin bleibt Zeit, um einen ersten Eindruck von der mit knapp unter hunderttausend hinsichtlich der Einwohnerzahl kleinsten deutschen Landeshauptstadt zu gewinnen. Das Große Haus des Staatstheaters zählt zu den vor dem Residenzschloss der Mecklenburger Großherzöge angelegten Ensembles aus Kultur- und Regierungsbauten. Nachbar des Großen Hauses und einstigen Hoftheaters ist die Staatliche Kunstsammlung. Der stilsicher Formengut der griechischen Antike verarbeitende, 1882 eingeweihte Museumsbau wird derzeit saniert.  Unweit residiert die gegenwärtige Landeschefin in einem monumentalen spätklassizistischen Bau aus der Schinkelnachfolge, der bis 1918 Sitz des Großherzoglichen Staatsministeriums war.  Nahebei lässt sich in einem metropolitan  dimensionierten Café komfortabel entspannen. Die Lokalität geht auf eine Hofkonditorei aus dem 18. Jahrhundert zurück. Ein Wandgemälde aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigt eine Stadtansicht von Prag, letzter Hinweis auf den zu realsozialistischen Zeiten einzigen Ort des Ausschanks von tschechischem Bier in Schwerin.

Leicht verliert sich im Caféhaus das Zeitgefühl. Es braucht einen Ruck, um sich zurück zum Staatstheater zu begeben.  Dort am Alten Garten, auf dem Theatervorplatz, wo sich 1989 die Protestbewegung gegen das DDR-Regime versammelte, grast nun eine Schafherde in wohlfrisierter Lockenpracht, die nahelegt, anzunehmen, die Tiere hätten vorher brav in der Maske des Staatstheaters angestanden. Am Weidezaun sind Schilder mit der Aufschrift „Wir sind kein Wolfsfutter“ angebracht.  

Theaterschafe, im Hintergrund das Schweriner Schloss, © Privat
Theaterschafe, im Hintergrund das Schweriner Schloss, Foto privat

Tulves und Gühlstorffs Oper nähern sich dem Thema aus konträren Perspektiven, jenen der Wolfsaktivistin, der Schäferin, des Jägers, des Politikers. Märchen und Mythen spielen mit multiplen Rotkäppchen und einem „Weltenwechsler“ hinein. Jede Figur bringt – mindestens im Augenblick, in dem sie diese heraussingt – plausible Argumente vor. Die Wolfsfrage steht in Mecklenburg-Vorpommern auf der Tagesordnung, seit das erste Exemplar 2006 im Land auftauchte. Gegenwärtig leben dort 15 Rudel. Ob das Gedeihen der Wolfspopulation Landwirtschaft und Naturraum überfordert und die Tiere daher bejagt werden müssen, ist heftig umstritten. Die Oper entdeckt Bedenkliches auf beiden Seiten. Wolfsaktivisten, die im benachbarten Ausland Zuchttiere erwerben, um sie auszuwildern. Jäger, die illegal Wölfe abschießen.  Tulves Komposition verwebt Mensch und Natur zu Klanggebilden, die dem Raubtierhaften in Mensch und Wolf ebenso nachspüren wie der in allem Geschöpflichen enthaltenen Poesie. Bisweilen wiegt sich die Musik im Tänzerischen.

„Wölfe“ Morgane Heyse, Markus Sung-Keun Park, © Silke Winkler
„Wölfe“ Morgane Heyse, Markus Sung-Keun Park, © Silke Winkler

Regisseurin Nina Gühlstorff und Ausstatterin Marouscha Levy gehen symbiotisch zu Werk. Ein den Orchestergraben überbrückender Steg vereint Bühne und das mit Kunstrasen ausgelegte Parkett, wo auf Bänkchen zum Mitspielen bereites Publikum Platz nimmt. Seiner harrt indessen eine auf der Bühne positionierte Tribüne. Während der Wolf sich des Zuschauersaals bemächtigt.  Das Ensemble fesselt durch enorme Präsenz. Morgane Heyse lässt die Wolfsaktivistin zunehmend mit dem Tier selbst verschmelzen.  In Gestalt des Weltenwechslers entsteigt Markus Sung-Keun Park geheimnisvoll naturmythischen Vorstellungen. Beim Verlassen des Hauses grast draußen noch immer friedlich die Schafherde. Wahrlich kein Wolfsfutter.

„Wölfe“ Morgane Heyse, © Silke Winkler
„Wölfe“ Morgane Heyse, © Silke Winkler

Das Schweriner Staatstheater setzte in der Endphase der DDR allererst im Schauspiel Zeichen. Dessen legendärer Chef Christoph Schroth entwickelte zwischen 1974 und 1989 Formate, deren subversive Kraft den zivilgesellschaftlichen Diskurs beflügelte.  Am Abend des Mauerfalls stand Schillers Wilhelm Tell in Schroths Regie auf dem Spielplan. Die Produktion gastierte dann auch bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. „Wölfe“ platzieren das Musiktheater in die zivilgesellschaftliche Tradition des Mecklenburgischen Staatstheaters.

„Wölfe“ Markus Sung-Keun Park, © Silke Winkler
„Wölfe“ Markus Sung-Keun Park, © Silke Winkler

An diesem Abend ist Lammfleisch keine Option. Gegen das Wölfische im Menschen lässt sich angehen. Ein Glas Wein tröstet. Die dazu erbötige Lokation in der Schweriner Altstadt trägt die Eule im Wappen. Das Weinhaus geht zurück auf einen württembergischen Migranten des 18. Jahrhunderts, der seinen neuen Landesherrn im deutschen Nordosten mit merkantiler und gastronomischer Kompetenz überzeugte. Das von den Nachfahren erbaute Weinrestaurant wurde 1906 eröffnet. Es verfügt über historische Räume im Stil der Zeit wie auch über ein elegant nach gegenwärtiger Façon möbliertes Bistrot mit gesprächsfördernder Atmosphäre.

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Großes Haus, Zuschauersaal,© Silke Winkler
Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin, Großes Haus, Zuschauersaal, © Silke Winkler

Offenbar werden in Schwerin die Bürgersteige früh hochgeklappt. Doch kaum graut der nächste Morgen, macht sich die Stadt schon wieder auf die Beine. Genug Motivation zu einem Spaziergang noch vor dem Frühstück. Der führt zunächst um den historischen Theaterbau herum. Bei seiner Einweihung im Jahr 1886 zählte das ehemals Großherzogliche Hoftheater zur fortschrittlichsten Theaterarchitektur ihrer Zeit. Nicht so sehr wegen der angenehmen Proportionen der Neorenaissance-Fassade, der Auffahrt für die landesherrliche Kutsche und dem reichen, doch nie überbordenden neobarocken Schmuck des Zuschauersaals mit dem von Anbeginn zum Interieur gehörigen Schmuckvorhang Ernst Hartmanns. Schon eher der für die Zeit neuen bereits außen ablesbaren deutlichen Unterscheidung von Foyer, Zuschauer- und Bühnentrakt halber. Ganz sicher aber, weil Hofbaumeister Georg Daniel eine eigene Infrastruktur für das Theater schuf. Eingedenk der Brandkatastrophe, die den Vorgängerbau niederlegte, wurde das Haus als erstes Theater überhaupt elektrifiziert. Der Strom kam aus einem eigens dafür errichteten Elektrizitätswerk. Ein in einigem Abstand zum Theater errichteter Kulissenbau trug sowohl dem Brandschutz als auch steigendem Platzbedarf Rechnung.

Schweriner Schloss, Gartenseite, © Privat
Schweriner Schloss, Gartenseite, Foto privat

Auf dem Rückweg fällt der Blick auf das Schweriner Schloss, eine spätromantischen Übertragung der Loireschlösser, vor allem Chambords, in den deutschen Norden. Im Verein mit den vorgelagerten Regierungs- und Kulturbauten ist es Kandidat für das UNESCO-Welterbe. Das Große Haus des Mecklenburgischen Staatstheaters mit den zugehörigen Umgebungsbauten präsentiert sich als Teil des welterbeverdächtigen Architekurensembles.

Victorie im Schlossgarten, © Privat
Victorie im Schlossgarten, Foto privat