Von Amts wegen verwahrlost

Der Fall Mia

I

Mia weint still. Sie sitzt so steif auf dem Rücksitz des schwarzen Variant wie das Stoffpferdchen, das sie vor die Brust presst. „Gleich sind wir bei ganz vielen Kindern!“, sagt die Frau vom Jugendamt aufmunternd, als sie sich hinter das Steuer schwingt. „Du wirst es mögen!“ Die Autotür fällt ins Schloss, die Koffer sind eingeladen – Mia dreht sich nicht um zu dem Mann, der ihr nachwinkt und der vier Jahre lang ihr Vater war. Es ist Silvester 2019. Bald ist Mittag.

Wenige Stunden zuvor hatte Mia ihre Mutter in der Küche gefunden. Zusammengesackt vor dem Küchentresen, auf dem sie Frühstück für das Kind zubereiten wollte. Da stand die Schüssel für das Müsli, die Banane lag daneben. Jana lebte noch, aber die Lippen waren ganz blau und sie wachte nicht auf, als Mia sich ihr ängstlich näherte, sie fragend ansprach. Ihr auf die Schulter tippte. Erst ganz vorsichtig, dann heftiger. Es half auch nicht, dass Mia sie schüttelte. Mia schrie. Sie rannte ins Schlafzimmer. Zerrte an Gregor, zu dem sie Papa sagte und der jetzt schlief. Tief und fest. Wenn ein Flugzeug neben ihm gelandet wäre, hätte er das wohl auch nicht gehört. Aber Lea war taff, sie fackelte nicht mehr lange. Sie schnappte sich das Handy vom Nachttisch und rief die Notfall-Nummer der Polizei. Dort nahm man ihren Anruf ernst, sie wusste natürlich ihre Adresse. Mia war schließlich schon acht Jahre alt.

Als die Sirenen der Einsatzfahrzeuge vor dem Haus verstummten, rannte Mia zur Tür. Notarzt, Rettungsdienst, Polizisten stürmten in die Wohnung. Gregor erwachte von dem Tumult. Verkatert.  Völlig neben der Spur. Halb noch im Schlaf und verständnislos sah er das Mädchen an: „Was soll das? Warum machst du hier um sieben Uhr so ein Theater?“ Verblüfft sah er sich um. Polizei in der Wohnung? Stumpf hinter der aufgeregten Mia in die Küche tappend, fehlte ihm jeder Sinn für den Ernst der Lage. Der Schock fuhr ihm erst in die Glieder, als er Jana sah. Die war noch ein Stück tiefer in sich zusammengesunken. Über sie gebeugt zwei Sanitäter. Der Notarzt schob Gregor aus der Küche. Er schloss die Tür. Sperrte Gregor und Mia aus. Als er wieder herauskam, schüttelte er bedauernd den Kopf. Jana war tot. Herzstillstand. Die Drogen halt. Mias Blick fiel auf ihre tote Mutter. In einer Blutlache.

II

Mia war vier Jahre alt, als sich ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Damals wohnte Jana mit ihr in einer kleinen Wohnung, bezog seit der Geburt Arbeitslosengeld II.  Die Lehre im Hotel hatte sie abgebrochen. Mutter und Kind hatten es nicht besonders komfortabel, aber Oma oder Tante sprangen jederzeit ein, wenn es knapp wurde. Jana ließ sich ohnehin nichts sagen, sie war Mitte zwanzig.

Jetzt hatte Jana einen neuen Freund, Gregor. Zu Mia war er nett und Jana liebte ihn sehr. So sehr, dass sie beschloss, mit ihm fortzuziehen. Weg von der kritischen Oma, bei der Mia viel Zeit verbrachte. Weit weg von der übrigen Familie, den allesamt mehr als christlichen Tanten, Cousinen und Cousins, frommen Mennoniten.  Jana fand sie furchtbar spießig. Dennoch hatten sie ihr Kind liebevoll aufgenommen und ins Herz geschlossen. Dass Jana nie den Namen des Vaters verraten hatte, ignorierten sie. Alkohol, Drogen, wechselnde Männerbekanntschaften freilich waren Teufelszeug, dessen Anzeichen bei Jana um der jungen Frau wie des eigenen Seelenheils willen übersehen wurden. Die Beziehung zu Gregor aber, der ersichtlich von Betäubungsmitteln abhängig war, überdies arbeitslos, kleinkriminell und vorbestraft, mit äußerstem Argwohn betrachtet.  Der Auszug von Jana und Mia war ein mittleres Drama. Doch nicht aufzuhalten. Jana fraß Gregor aus der Hand .

 Mehr als eine gute Fahrtstunde entfernt, bezog die kleine Patchworkfamilie eine neue Wohnung.  Das Amt zahlte sowohl den Umzug als auch die Miete, letztere auf das Konto der jungen Mutter.  Mia bekam ein Kinderzimmer. Möbel und Spielzeug brachte sie mit. Ein Kindergartenplatz und neue Spielkameraden würden ihr die Trennung von Oma, der Tante, den anderen Verwandten und ihren Freundinnen erleichtern.

Umzug, Kind und Mann überforderten Jana hoffnungslos. Mia fehlte die Oma. Jana fehlte vor allen Dingen Geld. Denn für Gregor war sie eine wunderbare Einnahmequelle. Jana war daher bereits pleite, bevor der erste Monat im neuen Heim um war. Bald wurde die junge Frau vergesslich.  Jana vergaß, die Miete zu überweisen. Strom und Wasser zu zahlen. Brot, Nudeln und Obst einzukaufen. Sie vergaß Mias Hunger. Manchmal vergaß Jana ihre Tochter gänzlich.

Oft dachte Jana nicht daran, morgens aufzustehen, um Mia zu wecken. Denn die wollte am liebsten jeden Tag in den Kindergarten gehen. Mia war traurig, wenn ihre Mutter verschlief. Dann zog sie sich an, spielte allein im Kinderzimmer und langweilte sich. Ihre Mutter und Gregor hatten beide keinen Job. Wenn Mia die unerlässliche Nacht-, Morgen-, Mittag-, Nachmittag- oder Abendruhe stört, gab es Ärger! Erwachsene unter Schlafentzug müssen durch die Gegend brüllen. Mia ist ein bildhübsches, kleines Mädel. Rank und schlank. Leichtfüßig wie eine Elfe. Mit dicken langen, dunklen Haaren. Rosa ist ihre Lieblingsfarbe, die beiden bunten Spangen für die Haare hütet sie in einer kleinen Papierschachtel. Jana hat nie Geld, um hübsche Kleidung für Mia zu kaufen, Gregor erst recht nicht. Mia freut sich über gebrauchte Röcke, Kleider, Pullis, die Jana für sie geschenkt bekommt. Sie macht sich gerne schick, aber manchmal geht das daneben. Dann läuft sie im Sommer im Winterpulli herum und wenn es kalt ist, in der schönen Sommerjacke. Die Kinder lachen dann über sie. Mias Mutter bemerkt nichts.

Meist herrschte bereits am fünften eines Monats Ebbe in der Familienkasse. Gregor war nach wie vor meist lieb und nett zu Mia. Gern hätte er ihr Apfelsinen und Schokolade gekauft, war aber gezwungen, Prioritäten zu setzen. Gerichtlich auferlegte Bußgelder und Schulden bei Dealern gingen vor. Hier zu schlampen, durfte er sich nicht leisten! Er hätte zurück ins Gefängnis müssen, um Reststrafen abzusitzen oder riskiert, verdroschen zu werden. Jana und Gregor graute davor. Auch benötigten die beiden Geld für den Nachschub an Alkohol, Zigaretten, Kokain und Heroin. Sie tranken, rauchten, zogen sich durch die Nase und spritzten was das Zeug hielt. „Feiern“ nannten sie das. Am nächsten Morgen waren beide vom Drogenkonsum erschöpft.  Mia kam dann wieder einmal nicht in den Kindergarten.

Dort wunderten sich die Erzieherinnen nur wenig über ihr Fehlen. Oder, wenn sie doch einmal auftauchte, darüber dass sie kein Frühstück dabeihatte. Nicht so jedenfalls, dass man sich bewogen fühlte, das mit den Eltern zu besprechen und schließlich zu melden. So etwas kommt in den besten Familien vor. Immerhin war Mia schon fast sechs Jahre alt. Bald würde die Schule besuchen. Da kann man durchaus selbst ein bisschen auf sich aufpassen.

Überhaupt keinen Spaß verstand der Hauseigentümer.  Nachdem er mehrere Monate keine Miete gesehen hatte, kündigte er völlig humorlos die Wohnung. Händeringend eilte Jana zur Stadtverwaltung. Ihre Sachbearbeiterin geriet ins tiefste Dilemma. Es gab keine passende Wohnung, die ins monatlich auf 550 Euro für einen Dreipersonenhaushalt begrenzte Limit der Stadt passte. Drogenkarriere und Strafregister von Gregor waren nicht allein dem Amt bekannt. Er gehörte nicht zur Klientel, auf die solide Vermieter stehen. Am besten Jana ginge mitsamt Töchterchen wieder zurück in die alte Heimat. Die Räumungsklage nahm den üblichen Lauf, einige Monate später holte ein Umzugsunternehmen die Möbel ab und lagerte sie kostenpflichtig ein. Dem zuständigen Hüter der öffentlichen Ordnung war aus unerfindlichen Gründen entgangen, wie völlig unfähig Jana und Gregor waren, ihr Leben zu organisieren. Er verwies die kleine Familie in eine örtliche Notunterkunft und sorgte dafür, dass die Stadt Kosten von monatlich über 1500 Euro für die Unterbringung übernahm. Kein Zweifel, er hatte seine Pflicht erfüllt. Die Familie stand nicht auf der Straße.

III

Mia war nun Schulkind und wohnte im kommunalen Obdachlosenasyl. Mit ihren Eltern hauste sie in einem von der Stadt zweckmäßig-sparsam mit Bett, Schrank, Tisch und zwei Stühlen möblierten Zimmer. Für Spielzeug war kaum Platz. Doch Mia hatte ohnehin keines mehr. Das Leben ist eben kein Ponyhof. Nach wie vor gab es ab dem fünften noch viele Tage bis zum Monatsende und nichts zu beißen im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche. Mia war froh, wenn die kleine Familie zu Freunden und Bekannten schnorren ging.  Sie verließ dann gekämmt, mit den hübschen Spangen im langen Haar und im rosa Kleidchen das öde Zimmer im Obdachlosenheim. Weite Fußwege nahm sie ohne Murren in Kauf. Angekommen, stopfte sie sich mit Torte und Würstchen vom Grill voll. Erbettelte Obst und Süßigkeiten. Freute sich, wenn die Leute ihr Reste von Pizza, Kuchen oder Salat für sie einpackten. Freunde und Bekannte sahen über Mias Raffgier hinweg. Sie wussten, was los war. Die >Beute< vermittelte dem Kind eine gewisse Sicherheit, dass sich am nächsten Morgen etwas zu essen fand.  

Mia hatte sich unbändig auf die Schule gefreut.  Den Weg dorthin schaffte sie spielend. Meist allein. Morgens marschierte sie vom Obdachlosenheim am Ortsausgang knapp zwei Kilometer an der stark befahrenen Bundesstraße entlang, bog dann Richtung Innenstadt ab, überquerte Straßen ohne Ampeln. Mittagessen gab es in der Schulmensa. Auch Hilfe bei den Hausaufgaben. Mia fiel den Lehrern als schlau, frech und vorlaut auf. Beim Spiel mit anderen Kindern erwies sie sich als nicht besonders zimperlich und leidenschaftlich auf ihren Vorteil bedacht. Dauernd fehlten ihr Hefte, Stifte und Bücher. Bald genügte selbst ihre rasche Auffassungsgabe nicht mehr, um die Defizite im Schreiben und Rechnen auszugleichen. Fast konnte man annehmen, dass da niemand daheim war, der mit ihr übte. Die Vermutung war berechtigt. Mia verfügte in der Obdachlosenunterkunft nicht einmal über ein eigenes Bett, geschweige über einen Platz zum Schreiben. Bald galt Mia in der Lehrerschaft als verhaltensauffällig. Das aber reichte zu ernsthafter Sorge oder gar Verständigung des Jugendamts nicht aus.

Als Mia sieben Jahre alt war und die zweite Klasse besuchte, schreckten die Behörden auf. Ein anonymer Anruf hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Ein Schulkind im Obdachlosenasyl der Stadt! Seit über einem Jahr! Und das bemerkt von einer amtsfernen Person! Die Stadtverwaltung bangte um ihren Ruf. Umgehend setzte das Jugendamt Sozialarbeiter und Betreuer in Bewegung. Mit durchschlagendem Erfolg. Mia bekam im Obdachlosenasyl ein eigenes Zimmer. Auf dem gleichen Flur wie die Eltern. Nur zwei Türen von diesen entfernt. Die Notunterkunft war beinahe vollständig mit alleinstehenden, meist jungen Männern belegt. Zu ihrer Sicherheit bekam Mia einen Schlüssel. Schließlich war sie kein Wickelkind mehr.

 Obendrein kümmerte sich nun ein Betreuer intensiv um Gregor und seine Drogenprobleme. Um Jana sorgte sich niemand. Hartz IV reichte vorne und hinten nicht. Weil Gregor sich in sämtlichen Einkaufsmärkten der Stadt nicht blicken lassen durfte, versuchte Jana die Kasse durch Gelegenheitsjobs aufzubessern. Auch mit Diebstählen. Wurde aber prompt erwischt. In klaren Momenten dämmerte ihr, dass sie sich von ihrer Liebe trennen und ihr Leben auf ein anderes Gleis setzen musste, wenn sie ihre Tochter behalten wollte. Angst vor dem Jugendamt war inzwischen ihr ständiger Begleiter. Jana war schwach, drogenabhängig und ihrem Freund hörig. Sie tat, was Gregor von ihr verlangte.

IV

Für Mia verbesserte sich die Lage deutlich, als sie ein halbes Jahr später in eine richtige Wohnung mit Kinderzimmer umzog. Das neue Zuhause lag schulnah im Stadtzentrum.  Selbst 500 Euro Umzugsgeld wurden gewährt. Die paar Brocken aus dem Obdachlosenasyl konnten leicht mit dem Fahrrad herübergeschafft werden. Und so wäre noch genügend Geld für Renovierung und Möbel übrig geblieben, wenn nicht die Stadtverwaltung wenige Tage nach dem Einzug einen ihrer Inkassomitarbeiter vorbeigeschickt hätte, um 300 Euro für rückständige Strom- und Wassergebühren einzutreiben, die in der Wohnung angefallen waren, aus der die kleine Familie vor vielen Monaten hinausgeflogen war. Weitere Geldhilfen für eine Küchenplatte und zum Streichen der vermackelten Wände lehnte die zuständige Sachbearbeiterin rigoros ab. Immerhin vermittelte das Jobcenter Jana eine Stelle als Küchenhilfe im Altenheim. Geld sah sie keines. Es wurde einbehalten, um aufgelaufene Schulden und Geldbußen für Janas Diebeszüge durch die Geschäfte der Region abzustottern. Immerhin war der Schulweg für Mia jetzt weniger gefahrvoll. Ihre Mutter konnte sie begleiten. Das Altenheim lag direkt gegenüber der Schule.

Alles war nun in beinahe schönster Ordnung. Dennoch blieben die Behörden wachsam. Regelmäßig kam – stets nach Voranmeldung – das Jugendamt zu Besuch, um sich nicht allein davon zu überzeugen, dass die Wohnung aufgeräumt war. Tatsächlich lagen bei solchen Gelegenheiten keine Bierdosen, Spritzen oder sonstige Hinterlassenschaften nächtlicher Drogenexzesse herum.  Janas dunkle Augenringe wurden übersehen. Mia war ordentlich gekleidet. Dass sie in der Schule versagte und die zweite Klasse wiederholen sollte, fiel nicht ins Gewicht. Für die Behörde schien die Sache im Griff. Offenbar gingen deren Mitarbeiter davon aus, mit dem Umzug und einem Job, der kein Geld einbrachte, habe sich auch die finanzielle Malaise von Mias Erziehungsberechtigter in Luft aufgelöst.

Späte Einsicht verhalf Mias Mutter dazu, Diebstähle in Supermärkten als nicht lukrativ genug und zudem mit unerfreulichen Nebenwirkungen behaftet zu betrachten. Sie verlegte sich daher verstärkt aufs Bittstellen. Gregors Schwester zeigte Mitleid. Die war freilich selbst nicht auf Rosen gebettet, half aber wenigstens aus, wann immer das ihr Portemonnaie zuließ. Auch der entferntere Bekanntenkreis ließ sich nicht lumpen. Oft gab es Kinderkleidung und Naturalien. Manchmal sogar Geld. Zwar reichte es nicht, um zu Mias achtem Geburtstag die Spielkameradinnen aus der Schule einzuladen.  Immerhin aber feierte Mia mit der Familie von Gregor. Es gab Geschenke und selbstgebackene Torte. Mia genoss es, endlich einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Nicht ansatzweise wären ihre Eltern in der Lage gewesen, ein solches Fest für sie auf die Beine zu stellen. Keinem halbwegs aufmerksamen Beobachter blieb die desolate Situation des Paares verborgen.

Mia hatte sich das Leben mit einem Papa anders vorgestellt. Jana auch. Das Mädchen entschloss sich, gut auf ihre Mutter aufzupassen. Die tat wirklich alles, was Gregor von ihr verlangte. Mia war nicht auf den Kopf gefallen. Sie hatte genug gesehen in ihrem kleinen Leben. Mia wusste ganz genau, dass die Einstiche auf Gregors Armen und Beinen keine Bienenstiche waren. Und das Wetter nicht die Ursache für Janas Kopfschmerzen. Das Kind hatte keine Chance, an der fürchterlichen Situation etwas zu ändern. Längst hatte es die Hoffnung auf Hilfe aufgegeben. Zwar fand Mia, dass ihre Mutter und sie ohne Gregor durchaus zurechtkommen konnten, aber Jana liebte Gregor. Obwohl der ziemlich ungemütlich wurde und nicht nur böse schimpfte, wenn Mama ihm kein Geld gab. Trotzdem liebte auch Mia den Mann, zu dem sie „Papa“ sagte, obwohl sie wusste, dass er nicht ihr leiblicher Vater war. Aber, dass die Mutter ihr täglich mehr entglitt, war schlimm. Jana zerfloss wie Wachs in Gregors Händen. Für ihn rechnete sich auch Mia. Er profitiert vom Kindergeld. Und ohne das Mädchen hätte er noch immer im Obdachlosenasyl gesessen.

Die adrette Sachbearbeiterin auf dem Sozialamt blieb ebenso misstrauisch wie knauserig. Als Gregor und Jana am Tag vor Heiligabend um Vorschuss bitten, weist sie den Wunsch energisch ab. Sie hatte Gregor die Bezüge für Dezember vorschriftsmäßig gekürzt, weil dieser nicht daran dachte, Fristen einzuhalten. Konnte sie denn etwas dafür, dass Weihnachten vor der Tür stand? Die Sachbearbeiterin vertröstete die beiden auf einen Termin nach den Feiertagen. Als korrekte Mitarbeiterin der Stadt, hegte sie größte Bedenken, ob nicht eine milde Bargeldgabe umgehend in Drogen umgesetzt und der erbetene Einkaufsgutschein auf dem dafür existierenden Schwarzmarkt landen würde. Mia hatte wieder einmal Pech. Sie stand nicht auf dem Programm.

Bei Gregor schlug das schlechte Gewissen, weil er weder Tannenbaum noch ein Weihnachtsgeschenk für Mia hatte. Doch nicht allein das. Wie sollte er das Fest ohne Drogen überstehen? Er brauchte dringend Geld. Erfolglos versuchte er,  einen Laptop an den Mann zu bringen, den er wenige Wochen zuvor für Jana gestohlen hatte. Wieder sprang seine Schwester ein. Sie organisierte eine ansehnliche Weihnachtstüte mit Lebensmitteln. Wenigstens an Grundnahrungsmitteln wie Reis, Nudeln, Kartoffeln, Brot, Obst, Milch, Käse und Puddingpulver würde es am Fest nicht fehlen. Eigentlich Vorräte, die schon im Haus sein sollten, wenn ein Kind dort wohnt. Ein Tannenbaum lag nicht im Budget. Dennoch freute sich Mia an Heiligabend über den lila Nikolaus. Sie war Kummer gewohnt. Am zweiten Weihnachtstag kamen Oma und Tante zu Besuch. Sie brachten Geschenke für Mia. Und konnten bewirtet werden. Die Weihnachtstüte gab’s her. Aber es fehlte eben Bargeld.

V

Weihnachten ist vorbei, das Monatsende und mit ihm die Aussicht auf Geld nahe. Für Jana und Gregor liegt sie unendlich fern, weil die Mittel für den nächsten Schuss fehlen. Sie machen sich auf den Weg zum Amt. Wenigstens ein Einkaufsgutschein muss herausspringen. Der lässt sich auf dem Schwarzmarkt gegen Bares versetzen. Mia muss mit. Als Mitleidsfaktor.

Aber die Sachbearbeiterin zieht nur gelangweilt die Brauen hoch. Sie kennt ihre Kundschaft. Ist der Märchen überdrüssig, die ihr tagtäglich aufgetischt werden. Sie betet die Geschichten allesamt im Schlaf herunter. Und weder Gregors Hundeblick noch Janas schüchterne Einwürfe können sie beeindrucken. Die zappelige Mia nervt zusätzlich. Die üblichen Leistungen werden in wenigen Tagen auf dem Konto sein. Vielleicht schon morgen. Wie es Jana denn mit dem Ein-Euro-Job im Altenheim gehe? Doch sicher gut. Noch während die drei im Büro stehen, ruft die Sachbearbeiterin die nächsten Kunden auf.

Endlos schleichen Tag und Nacht ohne Drogen dahin. Zitternd hält Jana am nächsten Morgen die Kontoauszüge in Händen. Zwar ist tatsächlich Geld eingetroffen, aber das Amt hat Gregor ein geschlagenes Drittel seiner Einkünfte abgezogen. Die Quittung für versäumte Gesprächstermine. Jana hebt ihre Stütze samt dem Kindergeld für Mia ab. Gregor verspricht dem Kind eine Tafel Schokolade. Dann verabredete er sich mit seinem Dealer.

Der riecht das Geld. Kassiert die Außenstände, die Mias Stiefvater bei ihm hat auflaufen lassen. Gregor ist pleite. Den Stoff aber wird er, wie sein Dealer ihn bescheidet, künftig nur bei Sofortzahlung erhalten.

Nicht einmal begonnen hat der neue Monat und schon herrscht die übliche Ebbe in der Kasse. Der Dealer wartet. Es gelingt Gregor, den Rechner seiner Freundin zu verscherbeln. Der Betrag  reicht fürs Nötigste.

Zuhause quengelt die um ihre Schokolade geprellte Mia. Freundinnen hat sie keine. Zu anderen Kindern eingeladen wird sie nie. Der Ruf ihrer Eltern lässt sich nicht unterbieten. Jetzt fordert sie wenigstens etwas Süßes. Eine Tafel Schokolade. Eine ganz billige. Die aus der untersten Regalreihe.

Silvester macht sentimental. Jana und Gregor fassen gute Vorsätze für das neue Jahr. Sie werden in die Privatinsolvenz gehen. Auf Entzug. In Langzeit-Therapie. Gleich am zweiten Januar werden sie die Anträge stellen. Zuvor aber einmal noch ins neue Jahr „feiern“.

Gregor zieht los, um vom Erlös des Rechners Stoff zu erstehen. Gestrecktes Heroin, verlängertes Kokain, etwas Methadon. Es geht ihm wie um Leben und Tod. Schokolade für Mia? Kein Gedanke.

Er kommt nach Hause. Das Mädchen springt frohgemut auf ihn zu. Endlich wird Gregor sich an sein Versprechen erinnert haben. Doch Fehlanzeige. Mia heult und schreit, was ihr kleiner Körper und ihre bescheidenen Kräfte hergeben. Entnervt schickt Jana sie ins Kinderzimmer. Auch ihr steht der Sinn nicht nach dem Kind. Sie fiebert der nächtlichen „Feier“ entgegen. Die sie mit ihrem Leben bezahlt.

VI

Mia sieht, wie der schwarze Sack mit ihrer Mutter darin im Leichenwagen verschwindet. Bald darauf treffen zwei Frauen vom Kreisjugendamt ein. Sie nehmen das Kind in Obhut. Raffen seine bescheidene Habe in einem mitgebrachten Koffer zusammen. Erfahren, wie sie sind, wundern sie sich über die Umstände. Ganz offensichtlich haben die Kolleginnen aus der Stadtverwaltung einen Riesenschlamp angerichtet. Auch deshalb dürfen die beiden Frauen keine Zeit verlieren. Jede weitere Panne würde  ihnen selbst angelastet werden.

Ehe sie es begreifen kann, sitzt Mia im Auto zum Kinderheim. Zwar sind Oma und Tante bereits auf dem Weg, aber die würden die jetzt hochtourig laufende amtliche Maschinerie stören. Nur dem Wunsch des Mädchens, die  tote Mutter noch einmal zu sehen, darf sich die Behörde nicht verweigern. Von Gregors  Schwester in die Friedhofskapelle begleitet, nimmt das Kind Abschied. Die Leiche sieht passabel aus. Der Bestatter versteht sein Handwerk.

Drei Wochen muss das schwer traumatisierte Kind im Heim verbringen. Ohne psychologische Hilfe. Dann werden die Sorgerechtsanträge von Oma und Tante genehmigt. Mia zieht zu ihnen.

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