Rolle verwechselt

Zum Selbstverständnis Redender mit schließlichem Blick auf
die TV-Ansprache der Bundeskanzlerin

Vor langen Jahren bat mich ein Pfarrer, an einer Predigtreihe über >Zeit und Ewigkeit< teilzunehmen. Ich sollte das Thema aus kunsthistorischer Sicht beleuchten. Sofort kam mir das Grabdenkmal eines barocken Fürstbischofs in den Sinn, dessen Marmorgestalt sich vom Totenbett auferweckt gen Himmel erhebt, indessen eine Uhr ihm auch dazu die Stunde schlägt. Während damals die Freundin die fachliche Kompetenz meiner Ausführungen lobte, bat der Pfarrer um Vereinfachungen. Das Thema aber herunterzubrechen, schien  meinen Betrachtungen genau jene Gewalt anzutun, die im Verb enthalten ist. Weise wie er war, insistierte der Pfarrer nicht weiter, da er seine Warnungen als vor die Wand gesprochen erkannte. Nur die Probe aufs Exempel schien ihm zu meiner Belehrung geeignet. Dreimal war die Predigt zu halten. Bei der Premiere blickte ich auf  hunderte von zur Feier des Festes der hl. Barbara – ihrer Schutzpatronin – versammelte Bergleute in den Bänken und auf dem Chor, feierlich angetan mit Uniform, Zierhämmern und Fahnen. Diszipliniert wie sie waren, zeigten die meist längst im Ruhestand befindlichen Hauer und Steiger weder Unruhe noch Missfallen, doch merkte ich, wie sehr meine Predigt über ihre Köpfe hinwegging, statt in die Gemüter zu dringen. Kein Zweifel, sie fassten sich in Geduld, weil sie wussten, dass meine Suada nach einer knappen Viertelstunde enden und nach dem Schlusssegen das Steigerlied gesungen werden würde. Zwar fanden die beiden Reprisen der Predigt etwas mehr Anklang, doch hatte ich verstanden. Beim nächsten Mal predigte ich zum Fest des hl. Karl Borromäus über das Missverhältnis einer vom Christentum als Buchreligion geprägten Kultur zur wachsenden Zahl funktionaler Analphabeten. Die Predigt wurde allenthalben gelobt, aber mir war klar, dass die Textsorte nicht die meine war. Besonders, wenn ich darauf sah, wie ein Cousin seine Gemeinde weit unmittelbarer erreichte als ich.

Adressatenbezug ist Alpha und Omega jeder Rede. Eine
Binsenweisheit, gewiss. Die überdies völlig wertlos wird, wenn sich Redende
nicht über ihre eigene Rolle im Klaren sind. Meine vermeintlichen Predigten
gehörten – obschon sie einen religiösen Bezug hatten – einer Textsorte an, die in
gehobenen Bildungseinrichtungen am Platz gewesen wäre. Ich war kein Prediger,
sondern hielt auch in der Kirche wissenschaftsbasierte Vorträge für ein
bildungsbürgerliches Publikum, wie sie damals zu meinem eigentlichen und – wenn
ich auf Publikumsresonanz und Medienberichte blicke – durchaus beherrschten Metier
zählten.

Gleich mir vor Zeiten, nur mit unendlich bedeutenderer
Wirkung, war die Bundeskanzlerin sich bei ihrer Fernsehansprache ihrer Rolle
ganz offenbar nicht bewusst. Das Grundgesetz will von ihr die Richtlinien der
Politik bestimmt wissen. Macherinnenqualitäten wären ihre Sache. Zielvorgaben
und Lösungsvorschläge hätte sie aufzeigen müssen. Konkretion fällt ins Ressort
der Regierungschefin. Moderation hingegen 
bleibt dem Staatsoberhaupt überlassen, das die Kanzlerin nicht ist.
Dennoch kam ihre Ansprache erschreckend präsidial daher. Außer dem Rat, auf
Abstand zueinander zu gehen, enthielt sie keinerlei Hinweis zum Umgang mit der
Krise.  Geschweige dazu, wie denn die
Bundesregierung auf die Existenzängste der Arbeitnehmenden oder zahllosen
kleinen und mittleren Geschäftsleute und freiberuflich Kulturschaffenden
reagieren wird. Auch bei knapp bemessener Zeit hätte sich dazu Stellung
beziehen lassen. In eine Viertelstunde passt viel hinein.

Die präsidiale Stillage der Kanzlerin fördert zudem ihr befremdliches Verfassungsverständnis zutage. Mittels die Rolle des Bundespräsidenten okkupierender Ansprache lässt sie das Amt, in das sie gewählt wurde, im Stich. Das Grundgesetz sieht eine Kanzlerin oder einen Kanzler als Staatsoberhaupt nicht vor, sondern differenziert die Verfassungsorgane mit bestem Grund und präzise. Eine Bundeskanzlerin in präsidialer Rolle genießt keinen Verfassungsrang. Welcher politischen Couleur auch immer, keiner ihrer sieben Vorgänger gab Anlass zur Verwechslung. Ob Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl oder Schröder, alle stimmten ihr Sprechen auf den Kanzlerton.

Mag sich daher die Rednerin ihrer Adresse erinnern: Sie
residieren, Madame, im Bundeskanzleramt, nicht im Schloss Bellevue. Schreiten
Sie zu Taten! Regieren Sie! Courage und ans Werk!

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